Zeiten ändern sich: Vor Ausstellungsaufbau performte Hannahlisa Kunyik im Pavillon – und nahm ihn für sich ein.
Foto: Carolina Frank, (c)Hannahlisa Kunyik

Wer noch nicht gekotzt hat, darf zugreifen. Dicke Plastik-Käselaiber stapeln sich auf rustikalen Brettern: Emmentaler, Gruyère, Brie oder Ricotta stehen zur Auswahl. Besonders große Radeln stemmen sogar ein mehrteiliges Gemälde, das ein Käse-Wettessen ohne Genierer mit sich übergebenden Besuchern in Szene setzt. Garniert wird diese Laktoseparty mit lebensgroßen Puppen, darunter ein Priester mit Kuhprint-Umhang. Praise the Cheese! Die wahnwitzige Rauminstallation von Gabriele Edlbauer und Julia S. Goodman ist wohl die knalligste und witzigste Arbeit im Untergeschoß des Belvedere 21. Wilder wird es nicht.

Unter dem Titel Über das Neue. Wiener Szenen und darüber hinaus knüpft das Museum an eine Präsentation 2019 an, in der junge, aufstrebende Künstler und Künstlerinnen der Stadt präsentiert wurden. Zwar sind seitdem lediglich vier Jahre vergangen, dennoch scheint die Ausgangslage eine völlig andere zu sein. Dazwischen ereigneten sich nicht nur etliche Krisen (Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, Inflation ...), sondern auch so mancher Wandel in der Kunstszene. 2023 ist also vieles anders.

Wahnwitzige Installation samt Käse-Priester von Gabriele Edlbauer & Julia S. Goodman. Davor zarte Marmor-Skulptur von Heti Prack.
Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien

Kuratieren im Kollektiv

Erstes Indiz dafür ist das mit fünf Frauen besetzte Kuratorinnenteam. Namentlich: Christiane Erharter, Andrea Kopranovic, Ana Petrović, Claudia Slanar und Luisa Ziaja. Im Kollektiv wurden einerseits künstlerische Positionen und andererseits Kunsträume (auch aus Salzburg und Linz) eingeladen, die wiederum kleine Ausstellungen in der Schau schaffen durften. Da die Auswahl bei einer solch quirligen und vielseitigen Kunstszene keine einfache ist, portioniert man die Gesamtschau in drei aufeinanderfolgende Teile.

Das Projekt möchte ein "Panorama des Gegenwärtigen" entwerfen und die Vielstimmigkeit der Szene abbilden, so Belvedere-Chefkuratorin Luisa Ziaja. Das Kollektiv versteht sich in der Tradition eines feministischen Kuratierens. Wer wird im Museum repräsentiert – und wer nicht? Reaktion am Puls der Zeit: 70 Prozent der gezeigten Positionen sind weiblich oder nonbinär. Der rote Faden ist die Diversität.

Still aus Anna Spanlangs neuem Zweikanal-Video "Mixed media/feelings".
Foto: Anna Spanlang

Mut zum Material

Dies stellt auch gleich der erste Teil, der bis Anfang Juli läuft, deutlich unter Beweis. Denn auch inhaltlich sind identitätspolitische sowie queerfeministische Themen präsent. Ziaja spricht von einer Multiplizierung jener Fragestellungen in der lokalen Kunstszene. Zusätzlich ist die formale Sprache der Künstlerinnen und Künstler deutlich vielfältiger geworden in den letzten Jahren. Stichworte: Keramik, Textil, Material-Mix.

Im Vergleich zu 2019 rücken also klassische Medien wie Malerei und Zeichnung etwas in den Hintergrund – sind aber natürlich noch stark vertreten. Video- und Soundarbeiten, filigrane Skulpturen, Fotografien sowie Objektinstallationen und performative Werke mischen die Schau repräsentativ auf.

Detail von Flora Hausers pastellfarbener Stickarbeit aus Acrylfasergarn auf Leinenstoff.
Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien

Silikon und Handyvideos

So ergeben sich passende Dialoge: Julia Haugeneders grün-graue Skulpturen aus geschichtetem Buchbinderleim, Luftpolsterfolie und Silikon bieten sich sowohl als Wandarbeit als auch als spannende Sitzgelegenheit an. Auf dieser Platz genommen, kann eine neue Videoarbeit von Anna Spanlang erlebt werden. Mit galoppierender Dynamik und zähnefletschendem Humor fügt sie darin eigene Handyvideos, Aufnahmen von Vernissagen oder historische Filmausschnitte zusammen. Stets dabei sind bekannte Größen aus der Szene wie Florentina Holzinger oder Kurdwin Ayub.

Noch vor Aufbau nützte die Künstlerin Hannahlisa Kunyik den leeren Pavillon für eine Performance. Mit prominenter Geste nahm sie sich den Raum, der lange Zeit primär für männliche Künstler reserviert war. An Statements mangelt es hier nicht.

Im Kontrast dazu stehen ganz zarte Arbeiten wie Marmorgebilde von Heti Prack, der introvertiert eine Geschichte von zwei homosexuellen Handwerkern in den 1930er-Jahren erzählt. Oder wie die von klitzekleinen Pastellformationen bevölkerten Leinwände und Stickarbeiten von Flora Hauser. Ihr mit Himmelskörpern besetzter Talar-ähnlicher Mantel eröffnet die Schau verträumt.

Praktische und fahrbare Ausstellungsarchitektur des Kollektivs AKT. Hier mit Werken von Francesca Aldegani.
Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien

Praktisches Messe-Feeling

Passend verspielt geht es auch in der Ausstellungsarchitektur zu. Das Kollektiv AKT – das 2023 mit Hermann Czech den österreichischen Beitrag auf der Biennale in Venedig gestaltet – stellte eine je nach Bedarf verstellbare (und fahrbare) Kojenlandschaft auf. Priorität: praktisch. Nützlich ist diese für das dynamische Ausstellungsprinzip also bestimmt, ästhetisch dominiert in dem zugegebenermaßen schwierig zu bespielenden Raum aber ein verwinkeltes Kunstmesse-Feeling.

Neue Tendenzen aus der Kunstszene bildet dieser erste Teil der Ausstellung jedenfalls gut ab, breitet mit nur 15 Positionen (und vier Off-Spaces) ein Spektrum an Aktualität aus. Ohne dabei in die Falle des Überschwangs zu tappen. Man bleibt fokussiert – und dem Dogma der Vielseitigkeit treu. (Katharina Rustler, 7.4.2023)