Im deutschen Wiesbaden hat sich Anfang März eine Schar Uniformierter in eine Kriegssimulation der besonders delikaten Art vertieft. Stundenlang sollen im dortigen Hauptquartier der US-Armee für Europa und Afrika ukrainische Militärs gemeinsam mit hochrangigen US-Kollegen die Köpfe über detaillierten Landkarten zusammengesteckt, Attrappen von Truppen und Kriegsgerät wie Spielfiguren hin- und hergeschoben und schließlich konkrete Strategien ausgetüftelt haben, wie der ukrainische David gegen den russischen Goliath im Frühling wieder in die Offensive gehen könnte.

Grafik: STANDARD

Freilich: Über Details, etwa mögliche Angriffsorte, vereinbarten beide Seiten wenig überraschend Stillschweigen. Auch was den Faktor Zeit betrifft, wann genau es also mit der seit langem angekündigten Frühlingsoffensive losgehen könnte, übt sich Kiew in Diskretion – der Feind, also Russland, hört schließlich mit. Fest steht aber, dass aus dem vermeintlichen Strategiespiel schon bald blutiger Ernst werden könnte.

Mögliche Strategien

Schließlich mehren sich dieser Tage die Anzeichen, dass die ukrainische Armee zu ihrer Gegenoffensive ansetzen könnte. Zuletzt wurden die Spekulationen Mitte der Woche angeheizt, als die Washington Post mithilfe von Satellitenbildern belegte, dass Russland seine Verteidigungslinien auf der annektierten Halbinsel Krim jüngst massiv verstärkt hat. Zudem treffen laufend westliche Kampfpanzer, etwa 18 deutsche Leopard 2 und mindestens 14 britische Challenger, sowie MiG-Kampfjets aus Polen (bisher acht, bald weitere sechs) und der Slowakei in der Ukraine ein – Gerät, das Kiew dringend braucht, um in den Angriff übergehen zu können.

Reicht das, was bisher geliefert wurde, schon für den großen Schlag? Und welche Szenarien stehen überhaupt im Raum? DER STANDARD hat Fachleute gefragt, welche Ziele die Ukraine verfolgen könnte – und was passiert, wenn die Offensive scheitert.

Der Faktor Zeit

Der österreichische Militärstratege Walter Feichtinger erwartet keinen allzu schnellen Marschbefehl. "Die Ukraine wird wohl noch zuwarten müssen, bis sie genug Material für eine Offensive einsetzen kann", sagt er. Zu langsam – und wohl auch in zu geringer Zahl – liefert der Westen derzeit Waffen, um Kiew den ganz großen Schlag zu ermöglichen. Im Winter hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj um 300 Kampfpanzer gebeten – bisher kam kaum mehr als ein Zehntel davon an. Frühestens Ende April, schätzt Feichtinger, sei daher mit einer Offensive der Ukraine zu rechnen.

Ukrainische Panzerfahrer werden auch in Spanien am Leopard-2-Kampfpanzer eingeschult.
Foto: OSCAR DEL POZO / AFP

Was die möglichen Schauplätze des angekündigten Gemetzels betrifft, können auch professionelle Beobachter derzeit höchstens spekulieren. Zuletzt, sagt Feichtinger, sei vor allem eine Stoßrichtung immer wieder in den taktischen Überlegungen der Ukrainer aufgetaucht: ein schneller Vorstoß von der Region um Saporischschja über das besetzte Melitopol bis ans Asowsche Meer. "So könnte man die Landbrücke zwischen Mariupol und der Krim unterbrechen und die Versorgung für die russischen Kräfte wesentlich schwächen", sagt er. Denkbar sei aber auch eine kleinere Offensive, zum Beispiel ein Angriff weiter im Norden in Richtung Luhansk, um dort Gebiete zurückzuerobern.

Langsamer Vormarsch

Auf allzu schnelle Erfolge darf Kiew nicht hoffen, sagt Feichtinger. Auch deshalb nicht, weil sich auch die russischen Militärstrategen seit Monaten auf einen ukrainischen Vorstoß vorbereiten, nicht nur auf der Krim, sondern etwa auch rund um Cherson und Melitopol.

Festlegen will sich auch Militäranalyst Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies (IISS) in London nicht. "Viel hängt davon ab, ob die Ukraine eine Großoffensive an einem Punkt plant oder mehrere kleine Offensiven. Ebenso ob man sich zu Beginn sozusagen einen großen Knall wünscht oder ob die Offensive schleichend beginnen soll", skizziert er die Lage.

Von Frühling ist in Kiew noch nicht viel zu spüren.
Foto: EPA/SERGEY DOLZHENKO

Müsste er tippen, würde Gady eher von einer Offensive nach dem Vorbild jener in Cherson im vergangenen Herbst ausgehen, wo die ukrainische Armee stetig und langsam vorgegangen ist, viel Feuerkraft eingesetzt hat – und daraus für beide Seiten ein großer Blutzoll erwachsen ist. Ein schnelles Vorstoßen der ukrainischen Befreier wie im Sommer im Norden bei Charkiw hält Gady, der erst kürzlich zu Forschungszwecken die Ukraine besucht hat, hingegen für unwahrscheinlich.

Bewegung dringend nötig

Fest steht: Kiews Truppen müssen in Bewegung kommen. Zuletzt zwang Russland sie etwa bei Bachmut in einen verheerenden Abnutzungskrieg. "Typisch wäre nun, die russischen Streitkräfte an einem Sektor der Front zu binden und an einem anderen durchzubrechen. Die Frage ist, ob die Ukraine genügend einsatzbereite Schützen- und Kampfpanzer hat", sagt Gady.

Zudem sei die Königsdisziplin der westlichen Militärdoktrin, der sogenannte Kampf der verbundenen Waffen am Boden und in der Luft, bisher nur rudimentär entwickelt. Dass noch kaum Kampfjets geliefert wurden, sei für Kiew hingegen verkraftbar, solange die Luftabwehr gut aufgestellt sei, erklärt er.

Der ukrainische Präsident Selenskyj bittet im Westen unablässig um neue Waffen – zuletzt am Mittwoch in Polen.
Foto: IMAGO/Jaap Arriens

Doch hat die Ukraine überhaupt genügend Munition, um ihre Truppen in die Schlacht zu werfen? Bis zu 200.000 Stück schwerer Artilleriegeschoße dürfte die Ukraine eine Gegenoffensive kosten, schätzt Gady – pro Monat. "Dauert die Offensive zwei Monate, könnte es schon knapp werden." Schließlich wird die anstehende Schlacht wohl kaum die letzte sein. "Wenn die Ukraine nun ihre Munition aufbraucht, wird sie danach ein Problem haben."

Ein weiteres Problem ortet der Analyst im vermutlichen Mangel an Pioniergeräten, etwa Minenräumpanzern. Um tatsächlich einen Keil in die russische Front im Osten zu treiben, wie Beobachter vermuten, braucht die Ukraine aber genau diese. "Die Gegend um Saporischschja und Melitopol ist jedenfalls strategisch bedeutsam für die Ukraine", sagt Gady.

Krim als "Maximalziel"

Die Krim sehen beide Fachleute hingegen nicht im Visier Kiews – zumindest vorerst nicht. Zwar hat Oberbefehlshaber Selenskyj die Rückeroberung der 2014 von Russland annektierten Halbinsel gerade erst erneut als Ziel ausgegeben, diese sei aber eben ein "Maximalziel", sagt Feichtinger. "Für die Ukraine wäre es schon ein Sieg, die Krim abzuschotten und von der Versorgung abzuschneiden."

Erst vor einigen Tagen wurde der Opfer des Massakers von Butscha gedacht.
Foto: EPA/SERGEY DOLZHENKO

Schließlich bereitet sich Russland akribisch darauf vor, einen direkten Angriff auf sein erbeutetes Kronjuwel abzuwehren: Dutzende Kilometer Schützengräben wurden entlang der Küsten und an den strategisch wichtigen Straßen nahe der Landenge von Perekop ausgehoben, die das Festland mit der Krim verbindet. "Die Krim-Option halte ich in den nächsten Wochen für sehr unwahrscheinlich", sagt Gady.

Welche Pläne auch immer zwischen Wiesbaden und Kiew ersonnen werden: Wenn sie dann endlich umgesetzt werden, ist die Ukraine zum Erfolg verdammt. "Die Offensive darf zumindest nicht zu einer Niederlage werden, weil sich sonst die Stimmen häufen könnten, die Kiew unilateral an den Verhandlungstisch zwingen wollen", sagt Gady. Und auch sein Wiener Kollege Feichtinger sieht die Ukraine unter Druck: "Aus heutiger Sicht hat die Ukraine auf absehbare Zeit nur eine einzige Chance auf eine Offensive." (Florian Niederndorfer, 7.4.2023)