"Wahnsinn, mich zu lieben": Tristan Brusch umarmt die Welt.

Foto: Rebecca Kraemer

Machen wir uns nichts vor, wenn es jemandem wirklich schlechtgeht, dann schreibt er keine traurigen Liebeslieder. Man ist in dieser Situation im Wesentlichen mit sich selbst und weniger mit dem lyrischen Ich beschäftigt. Insofern ist es schön zu hören, dass der 34-jährige Berliner Chansonnier Tristan Brusch nun nach der Vorgängerarbeit Am Rest in den neuen Liedern auf dem Album Am Wahn nach dem Thema Trennung das dieser vorgereihte Scheitern einer Beziehung in den Mittelpunkt seiner künstlerischen, in Moll gehaltenen Betrachtungen stellt.

Es muss ja nicht gleich so grimmig zugehen wie im Lied Baggersee. Da hält Tristan Brusch aus der Perspektive eines im Krankenhaus liegenden und auf den Tod wartenden Mannes sachlich-pathetisch und gallig-romantisch im Sinne Sven Regeners von den melancholischen Altspatzen Element of Crime Rückschau.

Tristan Brusch - Topic

Es startet mit einer tapfer geschlagenen Wandergitarre, Beserlschlagzeug und einem elektrischen Bass aus der Schule des heiter wie ein Vogerl von Ast zu Ast, von Note zu Note und von Bierzelt zu Bierzelt hüpfenden Schunkelschlagers. Gleich kommt Stimmung auf: "Vor dem Fenster, da kann ich Bäume sehen / In mir drin, da kann ich die Chemo spüren / Die Visite kommt immer um halb zehn / Die Ärztin sagt ... Ach, ich hör kaum noch hin."

Im Refrain von Baggersee gesellt sich dann eine verwehte Billigorgel dazu. So eine hat George Michael einmal zu Weihnachten von der Mama statt eines gewünschten Synthesizers bekommen. Aus Rache hat er dann darauf Last Christmas komponiert und den eigentlich in die gute alte ZDF-Hitparade der mittleren 1970er-Jahre passenden Mittelscheitel- und Goldketterl-Heuler dann Chris Norman, dem Sänger der großen 1970er-Jahre Schlagerrockband Smokie, als Vorlass zugeeignet: "Ich träume, du und ich nackt im Baggersee / Sahen die Zeit am Ufer stehen / Schwammen weit raus – und ich wollte vor Glück / Nie, nie, nie, nie wieder zurück."

TRISTAN BRUSCH

Als Infusion reicht Tristan Brusch in seiner Liedkunst reines Herzblut, zitternde Sehnsucht und den ein Leben lang trotz aller großen und kleinen privaten Tragödien nicht kleinzukriegenden und unbändigen Wunsch, die Welt nicht zu erobern, sondern sie zu umarmen. Liebe.

Musik, die Trost spendet und Kraft gibt, muss nahe am Kitsch gebaut sein, weil die erwartbare Schönheit von Melodie und Texten bewährten Mustern der leichten Wiedererkennbarkeit folgt. Man kann das auch anhand des schön auf Serge Gainsbourg und Jane Birkin verweisenden Duetts Kein Problem mit der immer ein wenig als Schnulzenpoetin unter Wert gehandelten Annett Louisan feststellen.

TRISTAN BRUSCH

Tristan Brusch schafft eines: In der musikalischen Schnittmenge aus Melancholie von den Bambis und irgendeiner aus Altersschwäche knisternden und orgelnden Schallplatte von Procol Harum wie Whiter Shade of Pale oder auch im Song Wahnsinn mich zu lieben erinnert Brusch an die alte deutsche Schlagergottheit Christian Anders.

Seifenblasen platzen nie: In dieser nahe an Poptragöden wie Jaques Brel und Scott Walker gebauten Welt muss dann auch Platz sein für Reinhard Mey und Geklampfe aus dem Pfarrheim – oder in Monster Nick Cave von Hildegard Knef gebrochen werden. Dieser Mann meint es ernst. Ein großer Wurf. (Christian Schachinger, 7.4.2023)