Die Regisseure lassen Michelle Yeoh im Dienste einer Ethik der Reifung für die beste aller möglichen Welten kämpfen.

Foto: 2022 Leonine

Sieben Oscars gingen in der Nacht auf den 13. März an den Film Everything Everywhere All at Once von Daniel Kwan und Daniel Scheinert, genannt The Daniels. In einem parallelen Universum waren es vielleicht auch elf Oscars, in einem schon etwas entfernteren womöglich sogar noch mehr, und irgendwo weit draußen in den Universen geringerer Wahrscheinlichkeit räumte der österreichische Nerd Johannes Grenzfurthner mit seinem weirden Streich Razzennest (neulich auf der Diagonale zu sehen) das Oscar-Regal leer. Everything Everywhere All at Once handelt eben davon: dass in einem Multiversum bei jeder Entscheidung (für oder gegen einen Film, für oder gegen ein Seidl Bier, für oder gegen eine Verabredung mit einem potenziellen Lebensmenschen) eine Parallelwelt entsteht, in der die Alternative im Schicksalsspiel zu ihrem Recht kommt. Lustig wird der Film, weil es Löcher zwischen den Welten gibt, weil man dazwischen hin und her springen kann und weil es hinter "unserer" Welt ein paar ziemlich abgefahrene gibt. Zum Beispiel eine, in der alle Menschen Wurstfinger haben.

Trend im Blockbusterkino

Zum Erfolg bei den Oscars trug sicher auch bei, dass Everything Everywhere All at Once ein großer Erfolg beim Publikum war. Und zwar ein unerwarteter. Mit so einem eigensinnigen Produkt kann man schlecht planen, die Daniels trafen also einen Nerv. Und der hat, neben dem exzessiven Witz des Films, wohl auch mit dessen Metaphysik zu tun. Geschichten vom Multiversum sind populär. Man kann beinahe von einer neuen Religion oder Religiosität sprechen, die sich im Blockbusterkino genauso zeigt wie in Fernsehserien (Dark). Das asiatische Karma-Konzept geht zum Teil in eine ähnliche Richtung und lässt sich auf die Vorstellungen von jederzeit offenen Abertrillionen Alternativen gut beziehen.

Wie aber steht es mit dem christlichen Glauben? An diesem Wochenende erinnern sich wieder zahlreiche Menschen an den Tod eines jüdischen Propheten im römisch besetzten Palästina vor 2000 Jahren. Viele von ihnen feiern in der Osternacht den Glauben, dass Jesus nach der Hinrichtung am Kreuz zwei Nächte später aus dem Grab auferstanden ist. Und zwar so leiblich, dass er danach sogar noch Mahlzeiten zu sich genommen hat, und keineswegs nur Götternektar.

"Für uns" gestorben

Von Jesus sagen die Kirchen, er sei "für uns" gestorben. Pro nobis, so lautet auf Lateinisch das entsprechende Theologumenon. Dahinter stehen Ideen über das Verhältnis zwischen Menschen und Gott, die heute nicht mehr so leicht Verständnis finden werden. Dass man das höchste Wesen gnädig stimmen muss, indem man ihm getötete Tiere darbringt (die, auch das bemerkt die Bibel nebenbei immer wieder, zum Himmel stinken), das finden heute wohl nicht nur Tierschützer anstößig. Gott aber ließ seinen eigenen Sohn opfern, so die Deutung des Jesus-Tods, mit der das Christentum eine Weltreligion wurde. Ein paar Hundert (Legenden-)Jahre davor hatte schon der biblische Jahwe von Abraham verlangt, er sollte seinen Sohn Isaak für ihn umbringen – im letzten Moment starb dann ein Widder als Ersatzopfer. Diese Geschichte – jüdisch: Akeda, Bindung – steht im Buch Genesis und beschäftigt bis heute die Interpreten, zuletzt im Vorjahr sehr interessant den Philosophen Omri Boehm.

Wenn man die anarchische Weltenlehre von Everything Everywhere All at Once als moderne Ersatzreligion zum Vergleich heranzieht, dann bekommt auch der Tod von Jesus einen spannenden neuen Akzent. Denn bei den Daniels geht es letztlich nicht darum, eine Geschichte in Beliebigkeit aufzulösen. Ihr Motto ist zwar: anything goes. Aber die Dramaturgie der Entfesselung steht deutlich im Dienste einer Ethik der Reifung und des Therapeutischen. Die Familie, die im Mittelpunkt steht, muss in ein Gleichgewicht gebracht werden – die ausgeleierte Ehe wird belebt, die queere Tochter findet Anerkennung, der lästige Großvater bekommt einen positiveren Stellenwert.

Andere Möglichkeitsuniversen

Es ist ein bisschen wie bei dem Philosophen Leibniz, der in seinem Versuch über die Theodizee (1710) von einer Vielzahl von möglichen Welten sprach, von der die konkrete, in der er sein Buch schrieb, dann allerdings "die beste aller möglichen" war. Andere Möglichkeitsuniversen kann man sich locker als deutlich besser vorstellen, die sind dann aber mit der menschlichen (und mit der göttlichen) Freiheit nicht so gut "kompossibel" (also "zusammenmöglich").

Auch in Everything Everywhere All at Once ist die Welt, in der die Familie Quan ihre Münzwäscherei betreibt, schließlich die beste aller möglichen, und sie hat sich durch den Kontakt mit den vielen anderen Welten, in denen die Figuren zwischendurch herumturnen, sogar noch verbessert.

Den Tod von Jesus am Kreuz kann man nun auch vor dem Hintergrund der Vorstellung von Myriaden Multiversen ein wenig neu deuten. Ein wenig moderner, und unter Verzicht auf einfache Opferlogiken. Jesus starb an einem Freitag um 15 Uhr (nach unserem Kalender, die Juden seinerzeit zählten anders). Dass der Zeitpunkt genau benannt ist, ist wichtig, denn im Moment des Todes schließt sich nicht nur ein Leben, es hören auch alle damit verbundenen anderen Möglichkeiten auf. Der springende Punkt bei den Multiversen ist ja, dass sie nicht leicht zu denken sind, weil sie immer an ein Subjekt in einem bestimmten Kosmos gebunden sind. Ich kann gern auf einer anderen Wirklichkeitsebene ein Filmstar sein (davon träumt Evelyn Quan, die in unserer Realität der Filmstar Michelle Yeoh ist), im Moment bin ich ein Journalist, der diesen Text schreibt.

Tod und Auferstehung

Auch zum Tod von Jesus gibt es zahlreiche alternative Spekulationen. Er wäre nur zum Schein gestorben und tatsächlich nach Indien geflogen, oder er hätte Maria Magdalena geheiratet (das ist eine Version, die Martin Scorsese verfilmt hat), oder er wäre gar nicht gestorben und nachts im Grab aus einer CO2-Narkose erwacht (diese Version wurde kürzlich durch den Historiker Johannes Fried vertreten). Tatsächlich ist aber gerade auch philosophisch und nicht nur religiös der springende Punkt an Ostern wohl nicht so sehr die Auferstehung, sondern der Tod von Jesus. Das hat mit dem Hauptwiderspruch zu tun, an dem sich auch alle Ideen von Multiversen abarbeiten: mit dem Rätsel der Individualität.

Wenn man auf die Welt blickt mit ihrer Vielfalt, mit ihren Ungleichheiten, mit der sehr unklaren Verteilung von Glück und Unglück, mit den Wundern der Kreativität und der Intelligenz und den Abgründen des Traumas, dann ist eigentlich die bedrängendste Frage: Warum bin ich ich? Warum muss oder darf ich ich sein? Jeder trägt sein Binkerl, antwortet der Volksmund achselzuckend. Andere Religionen antworten mit Vorstellungen von Wiedergeburt und Seelenwanderung, im Islam ist Allah so übermächtig, dass sich schon die Frage nach der Individualität nur demütig stellen lässt.

Zu sich finden

Das Christentum aber sieht in Jesus unseren Stellvertreter. Das ist ein aufgeladener Begriff, der durch die modernen Alternativszenarien neues Gewicht bekommt. Jedes konkrete Ich ist Alles überall und alles zugleich, wie das die Daniels formuliert haben. Der Tod von Jesus am Kreuz führt das Menschsein zum Äußersten. Während in den heute populären Vielweltenvisionen die Individualität explodiert, konzentriert sie sich im Tod Jesu auf einen extremen Punkt: auf einen Körper im Schmerz, auf einen letzten Moment zwischen Agonie und Ende. Es ist der Moment, in dem sich niemand vertreten lassen kann, obwohl auch diese Möglichkeit ein aktueller Film durchspielt: Infinity Pool ist nicht zufällig ein Horrorfilm, in dem reiche Menschen den Tod beliebig zu machen versuchen. Jesus war nicht das Opferlamm, das einen Sündenfall im Paradies für uns alle abbüßt – dieser Mythos wird zwar an Ostern weiterhin verkündet. Wir können nun aber eine tiefere Wahrheit hinter dieser alten Geschichte erkennen.

Jesus war (gerade auch in seinem Sterben) ein maßgeblicher Mensch, weil er besonders tief eine Erfahrung von Identität gemacht hat, die sich in den letzten Momenten eines Lebens erfüllt. Das Multiversum ist ein Trainingslager für Menschen mit zerspragelter Identität, aber das Ziel ist auch dort das gleiche: zu sich finden. Ostern ist das Fest der Kontraktion: Die expandierende Welt der Möglichkeiten zieht sich auf einen Punkt des Konkreten zusammen. Und dann fliegt wieder alles durcheinander. (Bert Rebhandl, 9.4.2023)