Eng gewobene Generationenbande: Karin Peschka.

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Bis heute befahren wir Straßen, überqueren wir Brücken, betreten wir Gebäude, die von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen unter unmenschlichen Bedingungen gebaut wurden, woran diese Menschen oft zugrunde gingen. Bis auf ein paar Gedenksteine sind sie dem kollektiven Gedächtnis meist entschwunden. Dabei waren Arbeitslager im ganzen Land verbreitet. Alleine ihre Auflistung in einem Katalog des Bundesdenkmalamts nimmt 217 Seiten in Anspruch.

Verschwiegene Vergangenheit

Karin Peschkas Roman setzt einen geheimnisvollen Fremden, der sich in der Kleinstadt Eferding herumtreibt, als Botschafter verschwiegener Vergangenheit ein. Eine kindliche Erzählerin, die (so wie die Autorin selbst) im Gasthaus Roter Krebs aufwächst, beobachtet und forscht nach dem Geheimnis, das den Serben Dragan Džomba umgibt.

Die Gaststube ist Treffpunkt von Menschen, Geschichten und Gerüchten. Stichwortartig werden Biografien einzelner Gäste vorgestellt, meist Männer, während Frauen sie umsorgen, ihnen Essen und Getränke servieren. Es ist eine nahezu vergangene Welt, in der es noch Bensdorf-Schokoladen gibt, Kalkeier eingelegt werden und Gäste nach Pitralon riechen. Nur die Beobachteten haben Namen. Die Familienmitglieder werden durch ihre Funktion bezeichnet: Großmutter, ältere Schwester, Mutter, Vater; das Eigene tritt zurück, um andere umso deutlicher zu machen.

Spiegel für Einheimische

Aus dem Kleinstadtsoziotop werden zwei Fremde und ein Außenseiter herausgehoben: Agnes, Haushälterin des Pfarrers, der Friedhofswächter Džomba und Silvester, der "Einfältige", der in der Nähe des einstigen Lagers wohnt. Die Anlage wurde nach dem Krieg dem Erdboden gleichgemacht, kein Schulunterricht erzählt Nachgeborenen davon.

Džombas Bruder Pavle soll darin umgekommen sein. Weil er von woanders herkommt, macht der Serbe sich bei manchen verdächtig: "Solchen Fremden werden oft neue Eigenschaften zugedichtet. Sie kommen in ein Dorf oder eine Stadt, stolpern in die Einheit derjenigen, die sich per Geburtsrecht Einheimische nennen. Sind umgeben von einem Rätsel und die Auflösung desselben ist das Abenteuer."

Džomba, unbeirrbar freundlich, hält den Einheimischen den Spiegel vor, deckt Dinge auf, weil er als Außenstehender eine andere Sicht auf die Gemeinschaft hat. Die Ungewissheit über den Grund seines Aufenthalts macht die Spannung dieses Romans aus. Genau und nicht vorschnell wertend, ja geradezu umständlich entfaltet sich die Erzählung aus der Perspektive des beobachtenden Mädchens.

Anderes Zeitmaß

Dieser ethnografische Blick berücksichtigt, dass in der Provinz ein anderes Zeitmaß herrscht. "Zwei Stunden sind für eine kleine Stadt wie Eferding eine lange Zeit." Um von einfachen Leuten zu sprechen, die so einfach gar nicht sind, findet Peschka eine Kunstsprache: Abgebrochene Sätze, kaum Hilfszeitverben, dafür viele Infinitive. Die lauschende Erzählerin hält sich als Person diskret zurück: "beobachten, sich nicht trauen, Entscheidung treffen, geschäftig sein" – so gelingt es unauffällig, möglichst viele Informationen zu erhalten. Dazu werden Sprüche, Liedzeilen, serbische Ausdrücke und Kurzsätze in den Text geschoben. Es ist vor allem diese gekappte Sprache, die die Erzählung trägt; der Sound von in ihrem Ausdruck beschnittenen Menschen entfaltet eine besondere Wirkung.

Die Dinge und die Umstände sprechen lauter als die Leute, denen sie geschehen. In der Atmosphäre einer Kleinstadt, wo alle fast alles von allen wissen, kann jede Winzigkeit bedeutsam werden. Mehr als in der Großstadt, wo man versucht, Abstand zu halten, weil ein Beteiligtsein aufgrund der Fülle von Begegnungen nicht funktionieren kann. Zudem handelt es sich hier um die Erinnerungen dreier Generationen: Großmutter, Mutter, Tochter, die als Erkenntnisse eines in den 1970er-Jahren im Gasthaus sozialisierten Kindes präsentiert werden.

Karin Peschka, "Dschomba". € 26,– / 378 Seiten. Otto-Müller-Verlag, Salzburg 2023.
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Kollektives Erzählen

Die Geschichte Džombas setzt aber in den frühen Nachkriegsjahren ein, umfasst also die Kindheit der Mutter sowie das Erwachsenenleben der Großmutter der Erzählerin. Die Erinnerungen von drei Generationen werden den Lesern als nahezu ununterscheidbar vorgestellt, so als wäre es eine Zeit. Da das Band zwischen den Generationen eng gewoben ist, gehen die jeweiligen Erlebnisse ineinander über. Alle helfen mit. So wird daraus ein kollektives Erzählen von verschwiegenen Geschichten und verdrängter Geschichte.

Zu guter Letzt erfahren wir doch noch Genaueres über das Zwangsarbeiterlager in Deinham in der Nähe Eferdings, das riesige Ausmaße hatte, mit Telefonleitungen und Strommasten versehen, sogar nachts hell beleuchtet war. Der einfältige Silvester arbeitete dort als Wächter und berichtet von Leiden, Seuchen, Strafen, die er miterlebte, "von den internierten Zivilisten, die oft völlig geschwächt im Lager ankamen, in viel zu dünner Kleidung für die Jahreszeit, Richter, Professoren, Ärzte aus serbischen und anderen Städten deportiert oder aus solchen, die zu Österreich gehört hatten, aber zur falschen Zeit am falschen Ort."

Mit diesem Roman erweist sich Peschka als Chronistin ihrer Herkunft, des Gasthauses Roter Krebs, der Kleinstadtgemeinschaft Eferdings, der vergessenen Opfer beider Weltkriege.(Sabine Scholl, 8.4.2023)