Maier: "Du setzt Deiner Heimat ein schwarzes Denkmal."

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"Die Heimat ist an der Pißrinne geboren. Bei mir steht sie an Nummer 9": Mit diesem etwas kryptischen Satz beginnt das neue Buch des deutschen Schriftstellers Andreas Maier. Und gleich zur Erklärung für alle, die mit dem Andreas-Maier-Kosmos nicht so vertraut sind, Die Heimat ist der neunte Teil seines bei Suhrkamp erschienenen Zyklus Ortsumgehung, eine Art zusammenhängender autofiktionaler Roman über seine Heimat Wetterau, der in folgenden schmalen Bänden und in scheinbar immer weiter werdenden konzentrischen Kreisen erschienen ist: Das Zimmer, Das Haus, Die Straße, Der Ort, Der Kreis, Die Universität, Die Familie, Die Städte und jetzt eben Die Heimat. Maier integriert uns, die seine Bücher lesen, immer wieder in sein Schreibprojekt: "Der Zettel mit den elf Titeln hängt dem Schreibtisch gegenüber an der Wand", lässt er uns wissen, nicht aber, welche zwei Buchtitel der Heimat noch nachfolgen werden. Vom Zettel wird der Autor nicht mehr abweichen, seit Jahren folgt Maier, Jahrgang 1967, seinem selbstauferlegten strengen Formalkonzept.

Jahre der Rekonstruktion

Seine Heimat, per se umstritten, ja ein Unwort, erfährt eine temporäre Zerteilung in die Kapitel "Siebziger", "Achtziger", "Neunziger" und "Nuller", allesamt dunkel: "Du setzt Deiner Heimat ein schwarzes Denkmal", schreibt Maier über sich und seine Abhandlung (verfasst in alter Rechtschreibung) und geht dafür erst einmal an den Anfang der Begriffe und, wie immer, zurück in seine eigene Vergangenheit, seziert all das, womit wir aufgewachsen sind und was wir in uns tragen, worüber in Familien und in der Schule geredet wurde und wie, vor allem aber geschwiegen: "Daß es in der Stadt keinerlei Juden gab, konnte gar nicht auffallen, da niemand darüber sprach." Gastarbeiterkinder, Zigeunermädchen, fremd war gefühlt alles, was nicht von hier war.

Andreas Maier, "Die Heimat". € 22,– / 245 Seiten. Suhrkamp-Verlag, 2023.

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Die Jahrzehnte hindurch beschreibt Maier politische Geschichte, unsere Sozialisation durch sie, die vermeintlich schwarzen Kapitel: Juden, Türken, Ostdeutsche. Maier nimmt uns mit zur ersten Holocaust-Doku im Medienraum III seines Gymnasiums, erzählt vom Mauerfall im Fernsehen, den sein zunehmend aus der Zeit gefallener Vater kaum zur Kenntnis nimmt: "Alles dunkel. Man schläft." Momente politischer Bildung und Unbildung: Philosophievorlesungen von Jürgen Habermas an der Uni in Frankfurt und dessen Reaktion auf die furchtbar missglückte Bundestagsrede zum 50. Jahrestag der Pogrome im November 1988, der Kebab als Widerstandsnahrung oder der mediale Aufstieg Hitlers zum Dauerbrenner und sexy Act auf dem Zeitschriftenmarkt der Neunziger.

In den Nullerjahren zieht Maier, schon mit seiner späteren Frau, zurück nach Bad Nauheim in die Wetterau, renoviert das Haus seiner Großmutter und müht sich an scheinbaren Nebenschauplätzen wie der Reparatur einer ererbten Brotschneidemaschine ab. Jahre der Rekonstruktion nennt es der Autor. Wir müssen an dieser Stelle einer Literaturzeitschrift dankbar sein. Für seine Volltext-Kolumne "Neulich" beginnt Maier über seine Herkunft zu schreiben: "Eine Geburtsstunde", so der Autor und meint: für seine "Ortsumgehung". Maiers Literatur ist erhellend, im aktuellen Band beginnt sie an der Pissrinne und endet dort wieder, am Thema Heimat scheitert der Autor keine Sekunde. Aufmerksame Fans wissen, welche Titel auf Maiers Zettel noch draufstehen: "Der Teufel" und "Der liebe Gott". Zweimal noch hat der Autor viel vor. (Mia Eidlhuber, 9.4.2023)