"Heimat hat, sobald man etwas intensiver über sie nachdenkt, die Tendenz, sich in Fiktion aufzulösen": der Autor Stefan Kutzenberger.

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Um einen Menschen zu verstehen, sagte Napoleon Bonaparte angeblich, muss man die Welt verstehen, in der er zwanzig Jahre alt war. Für ihn war dies das Frankreich des Jahres 1789, das Jahr der Revolution. In diesem gab er seine literarischen Ambitionen auf und entwickelte stattdessen militärische. Zweihundertzwei Jahre später war ich zwanzig Jahre alt und gab meine militärischen Ambitionen auf: Anstatt in Linz zum Bundesheer zu gehen, zog ich nach Wien, um mich der Literatur zu widmen.

Heimat, etwas Unbeständiges

Mit einer Revolution konnte die Weltgeschichte nicht dienen, aber doch mit einer Zeit des Wandels, in der Hitparade war gerade der Song Wind of Change von den Scorpions Nummer eins, in dem über die neue Ost-West-Verständigung gesungen wurde, über den Wind, der alte Feindschaften fortweht, was den Nerv der Zeit traf, nicht aber meinen Musikgeschmack, der damals schon relativ klar ausgeprägt war. Aus den Lautsprechern tönen heute noch ähnliche Klänge wie damals, während ich mich im Reich der Literatur gerade erst aufmachte, neue Welten zu entdecken, und sie bald in den grenzenlosen Genialitäten der lateinamerikanischen Literatur fand.

Napoleon und ich haben gespiegelte Leben, wer hätte das gedacht: Als Napoleon zwanzig wurde, brach die Französische Revolution aus, und er kehrte von Paris in seine Geburtsstadt Ajaccio zurück, um die Befreiung Korsikas vorzubereiten, während ich nur wenige Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag im September 1991 meine Heimatstadt Linz verließ und nach Wien zog, um dort im Kabinett meiner Oma mit dem Studentenleben zu beginnen. Oma war als Berliner Jüdin über Amsterdam nach Indonesien geflüchtet, wo sie sich gemeinsam mit Opa ein neues Leben aufbaute. Wegen des Militärputsches 1965 mussten sie dieses aufgeben und landeten nach den Stationen Linz und Steyr schließlich in Wien, womit sie beweisen, dass Heimat etwas Unbeständiges ist.

Trost und Halt

Obwohl meine Oma zwei Mal alles verloren hatte, einmal in Berlin, dann in Surabaya, obwohl ihre ganze Familie im Holocaust ermordet worden war, habe ich sie niemals jammern hören. In meinem kleinen Zimmer in ihrer Wiener Wohnung befand sich Opas Bibliothek der Weltliteratur, die er sich zusammengekauft hatte, noch bevor er als chinesischer Indonesier im österreichischen Exil die deutsche Sprache erlernt hatte. Heute verstehe ich, dass ihm die Literatur Trost und Halt gab, dass sie ihm Heimat war, egal in welcher Sprache, eine treuere Heimat, als es Länder, gebeutelt im Wind der Weltgeschichte, je sein konnten.

Der mexikanische Autor Carlos Fuentes sagte einmal, als er auf die Unterschiede zwischen lateinamerikanischer und spanischer Literatur angesprochen wurde: Wir sind alle Einwohner von La Mancha, dem größten Land der Welt. Und Peter Handke rief empört aus, als er nach dem Nobelpreis zu politischen Fragen befragt wurde: "Ich komme von Cervantes!" Und recht hatte er, naturgemäß, wir alle kommen von Cervantes, und wir alle sind Einwohner von La Mancha, reiten verirrt und verwirrt auf einem klapprigen Gaul durch die Steppe und versuchen uns einen Reim auf das zu machen, was uns geschieht, egal woher wir kommen und egal in welcher Sprache wir schreiben.

Nationale Literaturen sind nur eine Erfindung der napoleonischen Kriege, künstliche Konstrukte, die wir hoffentlich schon wieder hinter uns gelassen haben. Es wäre doch schade, wenn der Engländer William Shakespeare zwar über den Prinzen von Dänemark und über die Liebenden von Verona schreiben durfte, wir dagegen aber von Bergen, Äckern, Domen und Hämmern berichten müssen – und als Oberösterreicher im besten Fall von Hunden und Müttern.

Fehlende Wurzeln

Mit dem Wegzug aus Linz begann mein Leben in der Literatur, und nach und nach wurde sie meine neue Heimat. Nach einem Vierteljahrhundert war ich dann schließlich bereit, selbst Literatur zu schaffen. Und auch das ist die Geschichte eines Wegzugs: Meine Eltern hatten beschlossen, unser Haus in Linz zu verkaufen und nach Wien zu übersiedeln, weil das vernünftiger war, nahe bei den Kindern und Enkeln, eine kleine Wohnung statt vieler Stiegen. Während meine Eltern das sehr nüchtern sahen, erwischte es mich am falschen Fuß. Plötzlich hatte ich keine Basis mehr in Linz, fühlte mich meiner Wurzeln beraubt, musste, wenn ich in meiner Heimatstadt war, im Hotel übernachten!

Da reifte in mir der Entschluss, mir mein Linz einfach zu erschreiben, einen Linz-Roman zu verfassen, mit mir selbst als Protagonisten. So entstand Friedinger, mein erster Roman, den ich unverlangt an den Deuticke-Verlag schickte und von dessen Direktorin, Martina Schmidt, ich am 3. August 2016 die dürren, aber weltverändernden Worte erhielt: "Ich kann Ihnen einen Vertrag anbieten."

Neutrale Sprache

Spielte es eine Rolle, dass Martina Schmidt auch Oberösterreicherin ist? Protektion durch Herkunft? Sie stammt aus dem Innviertel, wie meine Verwandten, bei denen ich als Kind die Ferien verbrachte, und wenn ich heute daran denke, so sehe ich einen sonnenbestrahlten Bauernhof vor mir, grün wiegende Wiesen, einen kleinen roten Traktor, Bilder wie aus einem Tourismusprospekt des Hoamatlandes, in dessen Hauptstadt ich aufgewachsen bin, dessen Sprache ich spreche.

Diese Sprache ist mir im Gegensatz zum Dialekt der Verwandten auf dem Bauernhof immer langweilig neutral vorgekommen, bis ich im Lektorat meiner Romane für den deutschen Berlin-Verlag lernen musste, dass das, was ich als hochdeutsche Prosa erachtete, für deutsche Ohren oft wie Mundartgedichte klingt. Bei den Diskussionen über Austriazismen war ich meist zu weich, habe Grammatik und Vokabular angepasst, im Wissen, dass der Kampf verloren war, dass uns das traurige Einheitsdeutsch des nördlichen Nachbarn längst überrollt hat und die eigenen Kinder sprechen, als ob sie in Kassel aufgewachsen wären und nicht am Wiener Stadtrand, im äußersten Westen der Bundeshauptstadt, so weit im Westen, dass es schon fast wieder Linz ist, fast wieder das Hoamatland.

Bräuche, Geschichte, Gegenwart

Eine Definition dieser Hoamat könnte so lauten: Ich kenne deren Bräuche, habe deren Geschichte in der Schule gelernt und tue heutzutage so, als würde ich deren Gegenwart verstehen. Doch fehlt in dieser Definition die Literatur, denn diese ist es, in der ich mich am wohligsten zu Hause fühle. Man könnte das in die mathematische Formel H = L zusammenfassen. Heimat = Literatur. Was aber ist Literatur?

Literatur ist nichts anderes als der Versuch, die Heimat zu erklären. Deshalb kann man das H der Gleichung durch L ersetzen, sodass sich die redundante Definition L = L ergibt, Literatur ist der Versuch, die Literatur zu erklären. Und genau daran glaube ich. Romane beschäftigen sich nicht mit der Scholle, auf der sie entstanden sind, sondern mit sich selbst. Jeder gute Roman ist ein Meta-Roman, der über die Kunst der Fiktion reflektiert. Deshalb hat unsere Heimat, sobald man etwas intensiver über sie nachdenkt, die Tendenz, sich in Fiktion aufzulösen.

Denke ich aber an die Bücher, die mich geprägt und durch mein Leben begleitet haben, empfangen mich dieselben warmen Sonnenstrahlen wie in den Wiesen um Tante Gertis Bauernhof, und nicht von ungefähr spricht Thomas Mann von der Stallwärme der Kunst, denn genau die ist es, die ich verspüre, wenn ich mich ins Reich der Literatur zurückziehe (Stefan Kutzenberger, 8.4.2023)