Ihr Sünderlein kommet: Lingua Ignota wird in Krems zur Messe rufen.

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Das Anthropozän als Erdzeitalter, in dem der Mensch als entscheidender Faktor Einfluss auf die Geschicke unseres Planeten nimmt, ist an ein Ende gelangt. Das Motto des heurigen Donaufestivals (28. 4. – 7. 5.) lautet demnach "Beyond Human". Man sucht den Ausweg aus der Misere nicht nur im radikalen Umdenken bezüglich des Verhältnisses von Mensch und Natur. Wie kaputt und von uns zugrunde gerichtet die Natur auch sein mag, sie wird in Zukunft recht gut ohne uns auskommen. Bevor aber unsere Lebensgrundlagen in Klimakatastrophe oder globalen Kriegen endgültig dahingeschwunden sind, gilt es noch ein letztes Mal nach Auswegen zu suchen.

Ein radikaler Neuentwurf ist angesagt. Nicht nur ökologisch und politisch, man muss auch eine Vision von Welt entwickeln, die Intelligenz nicht nur im menschlichen Gehirn, sondern auch in digitalen Maschinen sucht oder sich auch "denkende Wälder" oder ein "Internet der Tiere" vorstellen kann. Humanes und Inhumanes, Aliens aus dem All oder Aliens aus der Welt der Künstlichkeit und Kunst als Rettung oder Fluchtpunkte: Einmal mehr steht die Welt vor den Herausforderungen des Unbekannten.

Abrissbirne als probates Mittel

Das Donaufestival bietet heuer reichlich Anlass dazu, nicht nur dem erwartbaren Dystopischen zu huldigen. Bevor wir zur Utopie gelangen, muss erst einmal bezüglich all der Dunkelheit, die da vor der Haustür droht, reiner Tisch gemacht werden. Und diverse Kirchen der letzten Tage haben in ihren Programmen ja schon immer die Abrissbirne als probates Mittel dafür im Programm. Erst einmal eine gründliche Desillusionierung betreiben, auch wenn diese gern mit Feuer und Schwert praktiziert wird. Ein brennender Dornbusch kommt dank des Klimawandels von ganz allein.

Als einer der Publikumsmagneten des Donaufestivals im Sektor Musik wird das britische Duo Godflesh ein weiteres Mal seinen menschenverachtenden Industrial Rock auspacken. Zur Eröffnung am 28. 4. wird gegen das Publikum mit brutalen Drumcomputerrhythmen, verzerrten Gitarren und hasserfülltem Gebrüll sowie Endzeitvideos sterbender Industrielandschaften vorgerückt. Wir verlassen die Erde, auf dass sie besser werde, sangen diesbezüglich einst die Goldenen Zitronen. Petronn Sphene aus Leeds erledigt dann den Rest mit einer ohrenzerfetzenden und den Körper rein physisch angreifenden Mutantendisco zwischen Techno-Gabber und Ohrenschrauben.

Am 29. 4. präsentiert der heimische Schlagzeuger Lukas König sein Projekt 1 Above Minus Underground. Mit Gästen wie den Hardcore-Breakbeat-Altmeistern Dälek oder der iranischen Künstlerin Rojin Shafari heißt es in Klage- und Zorngesängen: "War is the unveiling of the truth." Am 30. 4. wird die Intensität mit dystopischem Manga-Pop von Yeule fortgesetzt.

Hoffnung gegen jede Hoffnung

Allerdings schlägt an diesem Tag auch Techno-Altmeister James Holden versöhnlichere und spirituellere Töne an, wie auf seinem neuen Album Imagine This Is a High Dimensional Space of All Possibilities zu hören ist. Hoffnung gegen jede Hoffnung. Oder wie es Jean-Michel Jarre auf den Punkt bringt: "It’s difficult to be happy without being cheesy – everybody can be dark."

Musikalisch wird am zweiten Wochenende des Festivals neben der dänischen Noise-Berserkerin Puce Mary Teufelsaustreibung betrieben (5. 5.). Debby Friday rappt zu harten und gewaltbereiten Hip-Hop- und Industrial-Beats gegen das Patriarchat. Am 6. 5. jagt uns die legendäre japanische Freistilsängerin Phew Schauer über den Rücken. Ein weiterer Höhepunkt dürfte am selben Abend der Auftritt der US-Sängerin Lingua Ignota sein. Ihr aktuelles Album titelt Sinner Get Ready. Die klassisch ausgebildete Sängerin zelebriert eine reinigende Messe in Anlehnung an Diamanda Galas und kennt sich mit Erbschuld und Sühne in einer Kirche der letzten Tage bestens aus. (Christian Schachinger, 8.4.2023)