Die in Wien lebende ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk rief vergeblich zur Mäßigung auf: "Die Praxis, auf die eigenen Leute einzuschlagen, muss endlich aufhören."

Foto: Heribert Corn

"Die russische Revanche schreitet voran", klagte Halyna Kruk Mitte März auf Facebook. Die Lyrikerin aus Lwiw bezog sich dabei nicht nur auf den Oscar für den Dokumentarfilm Navalny, sondern auch auf den Preis für Europäische Verständigung der Leipziger Buchmesse, der am 26. April an die Russin Marija Stepanowa verliehen wird. Kruk bedauerte auch, dass europäische Kollegen und Kolleginnen keinen Unterschied in der Situation von russischen und ukrainischen Literaten sehen würden. Sie polemisierte gegen die Jurybegründung, wonach Stepanowa einem "nicht-imperialen Russland" zu einer literarischen Stimme verhelfe.

Aber auch "gewisse ukrainische Poeten" würden diese Konjunktur wunderbar ausnützen und hörten nicht auf, Stepanowa ins Ukrainische zu übersetzen, teilte die Lembergerin zudem gegen Landsleute aus. Angesprochen fühlte sich die ebenso aus der Region Lwiw stammende Marianna Kijanowska, die Kontakte zur Russin bestätigte, ihrer ukrainischen Kollegin jedoch gleichzeitig mangelnden Patriotismus vor Beginn der russischen Invasion vorwarf. Kruk drohte mit einer Klage, und Kijanowska löschte ihr Posting.

Shitstorms

Es gebe absolut keinen Poeten und Schriftsteller in der Ukraine, der derzeit aus konjunkturellen Gründen russische Autoren übersetzen würde, reagierte ihrerseits die Lyrikerin Ljudmyla Chersonska aus Odessa – sie ist auch die Gattin von Boris Chersonskij. Er gilt als der bekannteste russischsprachige Dichter der Ukraine. Halyna Kruk solle doch besser weiterhin Gedichte verfassen. "Sie haben einen klassischen Shitstorm im ukrainischen Internet ausgelöst. Es ist beschämend und schmerzhaft, all das zu lesen, was Sie hier schreiben", konstatierte Chersonska.

Nicht nur prominente ukrainische Lyrikerinnen sind sich zuletzt in die Haare geraten. Der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Tonalität intellektueller Debatten insgesamt verschärft, mehr als ein Jahr nach dem ersten Raketenbeschuss ukrainischer Städte liegen die Nerven vieler Ukrainerinnen und Ukrainer zunehmend blank. Ungeachtet, ob sie derzeit im Ausland oder in ihrer Heimat leben.

Verachtung

Jede bloße Erwähnung von Russland-Bezügen verfügt dabei über das Potenzial, einen großen Streit auszulösen. Als etwa die Schriftstellerin und Fotografin Jewhenija Bjelorussez auf Facebook Empathie für jene Mönche der dem Moskauer Patriarchat untergeordneten Ukrainisch-Orthodoxen Kirche zeigte, die nach einem Konflikt mit der Regierung nun das Kiewer Höhlenkloster verlassen sollen, gab es massiven Gegenwind. Von einem "wunderbaren Fall einer nunmehr im Ausland lebenden ukrainischen russischsprachigen Feministin" schrieb der Musiker und Journalist Albert Zukrenko verächtlich.

Aber auch als der Literaturwissenschafter und Übersetzer Mychajlo Nasarenko kürzlich für eine Anthologie zur ukrainischen Literatur des 19. Jahrhunderts mit dem Schewtschenko-Staatspreis ausgezeichnet wurde, setzte es deutliche Kritik. Sein Vergehen: Eine literarische Übersetzung Nasarenkos ins Russische war noch 2021 in Moskau veröffentlicht worden.

Verbale Kämpfe

Unerbittliche verbale Kämpfe werden einstweilen öffentlich vor allem in der Literaturszene ausgetragen. Selbst Starautor Jurij Andruchowytsch, an dessen patriotischer Haltung kein Zweifel bestehen kann, war bereits im vergangenen September an den virtuellen Pranger gestellt und angefeindet worden. Das staatliche ukrainische Buchinstitut hatte in diversen sozialen Netzwerken provokant darauf hingewiesen, dass der Schriftsteller bei einem norwegischen Literaturfestival gemeinsam mit dem aus Russland gebürtigen und seit vielen Jahren in der Schweiz lebenden Literaten sowie deklarierten Kritiker von Putin, Michail Schischkin, aufgetreten war.

Zur Verteidigung dieser Haltung rückte unter anderem die in Wien lebende ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk aus: Andruchowytsch Landesverrat vorzuwerfen sei lächerlich. "Die Praxis, die eigenen Leute zu prügeln, muss endlich aufhören", forderte sie. Wie sich zeigen sollte, verhallte diese Forderung ungehört.

Anfeindungen

Die Frage, ob man als Ukrainer oder Ukrainerin mit eindeutig regimekritischen Russen im Ausland kooperieren könne, stellt sich freilich auch außerhalb der Literaturszene. Die Position, alles, was mit Russland und selbst mit der dortigen Opposition zu tun habe, anzufeinden, sei angesichts des Krieges absolut verständlich, erklärte dem STANDARD ein ukrainischer Künstler, der in der aktuellen Situation anonym bleiben wollte.

"Ich und die meisten meiner Freunde haben aber hier einen ausgewogeneren und liberaleren Zugang", betonte er und verwies auf eine traditionelle linksliberale Ausrichtung der zeitgenössischen ukrainischen Kunst.

Dennoch hätten nicht wenige Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine selbst eine Teilnahme an Projekten von Ekaterina Degot beim Festival Steirischer Herbst in Graz als problematisch erachtet. "Öffentlich hat das bisher noch niemand gesagt. Aber je länger der Krieg dauert, desto stärker werden diese Tendenzen sein", meinte der Künstler. (Herwig Höller, 11.4.2023)