Wenn man den Hügel erklimmt, wird die Erde immer sandiger, das Gras gelblicher, bis es gar nicht mehr wächst. Die Erde ist hier tot. Die drei massiven Kohlekraftwerke stehen nicht nur wie Monumente aus sowjetischer Zeit in der Landschaft herum, sondern schleudern weiter Dreck in die Luft, so als wäre Bulgarien noch immer nicht in einer neuen Zeit, in einer ökologisch orientierten EU angekommen. Oben am Hügel angekommen, sieht man dann die tiefen Folgen der alten Industrie. Drei Kraftwerke – genannt Mariza Osten – umgeben eine verwüstete riesige Kraterlandschaft, aus der seit Jahrzehnten Kohle herausgeholt wird.

Der Braunkohleabbau Mariza Osten ist der größte Kohlendioxidproduzent in Bulgarien, der den Klimawandel beschleunigt. Insbesondere das Kraftwerk Brikel ist eine Dreckschleuder, die zu Atemwegserkrankungen führt. Der schwarze Staub bedeckt ganze Dörfer.

40 Prozent weniger Emissionen

"Der Südwind ist für uns noch der beste", erklärt der 76-jährige Dinjo Russev Ivanov, ein humorvoller Mann mit kratzigem Bart und weißen Locken. Denn wenn der Südwind komme, drehe der Qualm aus dem Brikel-Schlot in die andere Richtung. Herr Ivanov steht vor dieser verwundeten Landschaft, aus seinem Dorf Trojanovo sind viele Leute weggezogen, weil die Kohlebergbaugesellschaft Häuser aufgekauft hat, um die Mine weiter auszubauen. Die Fenster der Schule sind eingeschlagen, das versprochene Krankenhaus wurde nicht gebaut. "Es wird viel Geld mit diesen Kraftwerken verdient, aber hier kommt nichts an", kritisiert er. Die Kumpel, die im Bergbau arbeiten, würden früh sterben und die Luftfilteranlagen im Kraftwerk zuweilen ausgeschaltet, um noch mehr Geld zu machen.

Bulgarien gehört nach wie vor zu den am stärksten von der Kohle abhängigen Ländern der EU.
Foto: AFP/Nikolay Doychinov

Mit der EU-Kommission wurde vereinbart, dass Bulgarien seine Kohlendioxid-Emissionen bis Ende 2025 um 40 Prozent reduzieren muss, bis 2038 sollen die Kraftwerke ganz geschlossen werden. Das war auch die Bedingung dafür, dass Bulgarien Milliarden aus dem EU-Aufbaufonds beantragen durfte. "Doch die bulgarischen Politiker behaupten weiter, dass die Kraftwerke bleiben können", erzählt Ivanov. "Das sind allerdings Fake News."

Kohlenstoffintensivste Volkswirtschaft

Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bereits zweimal festgestellt, dass Bulgarien gegen EU-Recht verstößt, weil es erlaubt, dass hier die zulässigen Standards für die Luftverschmutzung auf unbestimmte Zeit nicht eingehalten werden müssen. Die Kraftwerke sind nämlich Arbeitgeber für etwa 12.000 Familien, ein Faktor für Prosperität und Sicherheit, aber auch eine Frage der Identität.

Tim McPhie, Sprecher der EU-Kommission für Energie und Klima, verweist darauf, dass Bulgarien die kohlenstoffintensivste Volkswirtschaft der EU sei und sich verpflichtet habe, die Energiegewinnung durch Kohlekraftwerke zu beenden. "Das war ein entscheidendes Element für die Genehmigung der Gelder aus dem Aufbaufonds", so McPhie zum STANDARD. Insgesamt stelle die EU Bulgarien fünf Milliarden Euro für Reformen und Dekarbonisierung zur Verfügung. "Zahlungen können jedoch nur auf der Grundlage der zufriedenstellenden Erfüllung der vereinbarten Meilensteine und Ziele erfolgen", so McPhie.

Luftqualitätsrichtlinie

Ziel der Kommission sei es nun, dafür zu sorgen, dass die bulgarischen Behörden die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Luftqualitätsrichtlinie nachhaltig einzuhalten, betont McPhie. Da das bulgarische Gericht an die Auslegung des EuGH gebunden sei, erwarte die EU-Kommission, dass die dem Kraftwerk Mariza Osten erteilte Genehmigung, die Emissionen zu überschreiten, widerrufen werde.

Bergleute und Arbeiter des größten bulgarischen Kohlekraftwerks Mariza Osten 2 protestierten im Oktober 2021 gegen eine vorzeitige Schließung der Kohlekraftwerke im Rahmen des Green Deal der EU.
Foto: REUTERS/Spasiyana Sergieva

Der von der EU geforderte Kohleausstieg ist eine hochsensible Angelegenheit. Wenn immer davon die Rede ist, rufen Gewerkschaften zu Streiks auf. Stara Sagora liegt am Berghang des Mittelgebirges im Tal des Flusses Mariza. Hier ist der Boden besonders fruchtbar, früher wurde viel Baumwolle und Tabak angebaut. Heute gehört die Region im Herzen Bulgariens zu den reichsten und bestentwickelten. Die Löhne sind fast gleich hoch wie in Sofia. Das Geld kommt zu einem großen Teil aus den Kraftwerken.

Loyalität zum Kreml

Deshalb zieht der anvisierte Kohleausstieg einen Graben zwischen prowestlicher und prorussischer Orientierung. Denn die eher ökologisch orientierten Bulgaren und Bulgarinnen, die den Kohleausstieg präferieren, sind dieselben, die sich hinter die Ukraine und die EU stellen. Die Kohlefreunde sind wiederum eher prorussisch. Und es gibt viele von ihnen.

In Stara Sagora denken viele, dass die USA den Krieg in der Ukraine anzettelten, sie misstrauen dem Westen. Draußen vor der Stadt steht ein massives Stahlbetondenkmal zu Ehren einer Flagge aus dem russischen Samara und eines russischen Oberst, der, umringt von sechs bulgarischen Soldaten, die unverwüstlichen Bande zwischen Russland und Bulgarien demonstrieren soll.

Das Denkmal erinnert an den Konflikt zwischen dem Osmanischen und dem Russischen Reich im Jahr 1877 und 1878. Danach erklärten sich die Fürstentümer Rumänien, Serbien und Montenegro unabhängig vom Osmanischen Reich. Stara Sagora wurde in diesem Krieg von Osmanischen Truppen niedergebrannt – tausende Menschen starben, und die russischen Soldaten werden deshalb bis heute als Befreier verehrt.

Ökologie nicht so wichtig

Die Kohlekraftwerke liefern zudem 40 Prozent des bulgarischen Energieerzeugung – man konnte bislang viel exportieren und viel verdienen. Die bulgarischen Politiker winden sich deshalb, kaum jemand traut sich, den Kohleausstieg anzusprechen. Im Rathaus in Stara Sagora, einem sozialistischen Bau mit einem beeindruckenden Atrium, versucht man ökonomisch zu argumentieren. Die EU-Kommission habe einfach nicht ausreichend Geld auf den Tisch gelegt, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, wenn die Kraftwerke schließen müssten. Auch die Übergangszeit sei viel zu kurz bemessen worden, sagt Mariana Perchemlieva von der Investmentabteilung. Deshalb habe man als Gemeinde den EU-Plan zum "Gerechten Wandel" abgelehnt.

Vom Kohleausstieg traut sich in Bulgarien kaum jemand zu sprechen.
Foto: Nikolay DOYCHINOV / AFP

"Es geht uns um unsere Arbeitsplätze. Wenn neue geschaffen werden, müssen auch die Löhne gleich hoch bleiben", fordert sie. "Und Ökologie ist jetzt nicht die wichtigste Sache." Hier im Rathaus bezweifelt man sogar, ob die Emissionen durch den Kohleausstieg überhaupt sinken würden.

Unvermeidlicher Wandel

Der Energieexperte Slavtcho Nejkov, der viele Jahre Direktor der Energiegemeinschaft für Südosteuropa war, meint, dass die Energie-Entscheidung am Ende weder von der Politik noch von der Verwaltung entschieden werden wird, sondern vom Markt. "Der Markt mag die Kohle nicht", erklärt er. "Das war nur eine kurze Zeit so, im Vorjahr, als der Krieg begann, weil es zu einer Energieknappheit kam. Aber der Strom aus Wärmekraftwerken ist mittelfristig nicht wettbewerbsfähig, weil die Kosten wegen der Emissionen zu hoch sind."

Nejkov fordert, dass die bulgarischen Politiker den Bürgern klar kommunizieren müssen, dass die Zeit der Kohle vorbei sei. Alles andere sei Populismus. "Der Energiewandel ist unvermeidbar, die grünen Technologien entwickeln sich schnell." (Adelheid Wölfl aus Stara Sagora, 11.4.2023)