Mit Sonnengelb steche ich auf die Leinwand ein. Der Pinsel ist wie ein Messer, Stich um Stich, Farbklecks um Farbklecks verteile ich gelbe Patzer. Pink und Hellblau habe ich schon in Wellen verarbeitet, ebenso meinen angestauten Frust wegen der Arbeit und den Streit mit meinem Freund von heute morgen.

Ich stehe in einer umfunktionierten Souterrainwohnung, versteckt in einem Hinterhof im siebten Bezirk, und tobe mich beim Action-Painting aus. Und Action wird hier wörtlich genommen. Auf die 1,50 mal 1,30 Meter große Leinwand schleudere ich Farbe mit den Händen, mit dünnen, dicken, breiten, haarfeinen Pinseln verteile ich sie quer über die riesige Fläche.

Einfach drauf los malen – auch wenn man zunächst Hemmungen hat.
Foto: Regine Hendrich

Ich springe, ziehe den Pinsel wie ein Schwert von unten nach oben, aus Weiß wird schnell ganz, ganz bunt. Patzt man oder erwischt die Wand, ist das vollkommen egal. Es gehe darum, sich komplett aufs Malen konzentrieren zu können und sich nicht darum scheren zu müssen, ob etwas dreckig wird, erklärt Stefanie Raymann das Konzept.

Die gebürtige Schweizerin hat ihr "ganzes Leben lang urviel gemalt", sagt sie. Aber weil sie immer unter Leuten gewesen sei, die besser malten, habe sie die Motivation verloren. "Ich bin nicht der Typ, der sich hinstellt und sagt, ich habe was Cooles gemalt." Während der ersten Corona-Lockdowns griff Raymann dann wieder zu Pinsel und Farbe.

Ich, Picasso

"Oft haben die Leute am Anfang eine Hemmschwelle. Man steht da vor einer riesigen Leinwand und weiß nicht, wie man anfangen soll", sagt Raymann. Dabei sind keine künstlerischen Vorkenntnisse notwendig. Samstags und sonntags bietet sie die Malkurse an. Für 90 Euro kann man drei Stunden lang Farbe auf die Leinwand spritzen. Wer möchte, lässt sich sein Kunstwerk um zusätzliche 60 Euro auf einen Rahmen spannen. Am Ende hat man ein selbstgemachtes Kunstwerk zum Aufhängen.

Stefanie Raymann bietet das Action-Painting im siebten Bezirk an.
Foto: Regine Hendrich

Raymann gibt den Kursteilnehmenden eine kurze Einführung in die Materialien und wie man Farben mischt. Grün schafft man allein gerade noch – will man aber ein gediegenes Petrol oder ein kräftiges Magenta, hilft sie, die Nuancen zu mischen. Ansonsten lässt Raymann die Leute einfach malen: "Die kommen dann in so einen Flow. Das ist fast wie Therapie."

Das Spritzen, Springen, Mit-dem-Pinsel-Ausholen bringt mich außer Atem. Unter dem Schutzanzug schwitzt man. Dass ich hier ein Workout machen muss, habe ich nicht erwartet. Ich bin körperlich fertig, aber zufrieden, leer, aber auch motiviert. Weil man sich nur aufs Malen konzentrieren kann und man auf sonst nichts achten muss.

Farbe aufziehen und ohne Zurückhaltung auf die Leiwand spritzen.
Foto: Regine Hendrich

Gesprenkeltes Atelier

Pinsel auswaschen? Macht jemand anderer. Die Wände aus Versehen erwischen? Völlig wurscht, denn der Raum ist bereits voller Farbe: Jede Ritze ist burgunderrot oder ultramarinblau gesprenkelt, Flitzer von Schwarz, Grau und Grün bedecken die Fensterscheiben. Als wäre hier ein Clown explodiert – aber in Wirklichkeit wird nur wild und voller Emotion gemalt.

Nach einer Stunde Malen stehe ich vor meinem Bild. Eine violette Welle am unteren Ende macht mich stutzig. "Schaut scheiße aus", sage ich. Ich habe das Gefühl, ich habe das Bild ruiniert. Mit ein bissl Wut im Bauch drücke ich den Pinsel in den Farbeimer und schmiere noch mehr Violett auf die Leinwand. Mit einem saftigen Luftsprung lande ich einen Streich ins linke untere Eck. Besser.

Drei Stunden lang kann man am Gemälde werkeln. Wirklich fertig ist man gefühlt nie.
Foto: Regine Hendrich

Raymann ist wichtig, dass die Leute frei malen und nicht irgendwas nachmachen wollen. "Das ist kein Malen nach Zahlen. Man übt auch keine Technik." Nur weil man etwas auf Instagram gesehen hat, könne man das nicht eins zu eins nachmachen, weiß sie. Dafür fehle einfach die Übung. Ein Farbkonzept hingegen sei in Ordnung, man will ja auch, dass das Bild ins Wohnzimmer passt. "Aber den Rest, was passiert, das kann man nicht planen."

Ein Blick in die Persönlichkeit

Was am Schluss herauskommt? Für Raymann ein Blick in die Persönlichkeit der Malenden. "Die einen hauen die Farbe fast schon aggressiv auf die Leiwand, die anderen sind ganz sanft, malen Wellen. Die einen malen Bilder ganz schwarz, und andere mögen es dagegen knallig, in den Farben des Sommers."

Runde Formen, um den starken Duktus zu durchbrechen.
Foto: Regine Hendrich

Mein Bild fällt in letztere Kategorie. Hellblau, Rosa, Gelb, Violett ziehen sich über die fast zwei Quadratmeter große Malfläche. Dass es so bunt geworden ist, war nicht geplant, meine Lieblingsfarben sind Schwarz und Schwarz. Aber das hätte schlecht in die Wohnung gepasst. Ich nehme noch das knallige Rot. Es fehlt mir im Bild noch das gewisse Level an In-Your-Face. Ich male ein Dreieck, ziehe einen Strich. Das ist zu hart. Mit viel Farbe auf dem Pinsel und einem geschickten Schwung male ich einen roten Kreis in die Mitte der Leinwand.

Die letzten Spritzer.
Foto: Regine Hendrich

Ich gehe zwei Schritte zurück, einen nach vorn, schau auf das Bild. So wie man es im Museum machen würde. Ich atme lange aus, der Stress, der Zorn, beides ist verflogen. Ich lege den Pinsel aus der Hand: "Ja, so passt's!" (Kevin Recher, 12.4.2023)