Metallica veröffentlichen heute, Freitag, ihr neues Album "72 Seasons". Zwölf Songs in 77 Minuten. Uff.

Foto: Universal Music/Tim Saccenti

Musik kann man sich manchmal wie Essen vorstellen. Als dünne Suppe zum Beispiel. Oder als fettes Brot (lustig). Im Bereich des Klangs taucht wiederum gern der Eintopf auf.

Versuchte man dem neuen Album von Metallica ein Gericht anzudichten, wäre es ein Hamburger, ganz klar. Und zwar ein Hochhaus von einem Burger. Oben und unten ein harter Deckel. Der untere wäre das letzte Lied, Inamorata genannt und flotte elf Minuten kurz. Und obendrauf das dem Werk seinen Titel gebende 72 Seasons, das schon nach knapp acht Minuten klein beigibt. Dazwischen kommen übereinander zehn Trümmer Faschiertes zu liegen, je nach Machart meist "well done" oder halbgar, nur selten blutig.

Auch ohne begleitende Saucen, Pommes und Spülmittel aus der Brauerei ergibt das nicht gerade einen Fitnessteller, sondern erinnert eher an eine Mast. 77 Minuten lang dauert 72 Seasons vom ersten Bissen bis zum letzten Rülpser. Aber darunter geht es nicht.

Familienaufstellung

Die US-Band Metallica ist einer der Marktführer im Heavy-Metal-Fach. Alles andere als wenigstens ein Doppelalbum ließe den Kurs einbrechen. Schwäche zeigt man nicht, oder wenn, dann macht man daraus gleich eine Dokumentation wie Some Kind of Monster: So hieß eine verfilmte Familienaufstellung über die zwischenmenschlichen Probleme der Band, die 2004 in den Programm- und Seelenpornokinos lief.

Metallica

Some Kind of Monster war tragikomisch, aber menschlich. Denn es zeigte, dass so eine Existenz zwischen Thrash Metal (die Anfänge) und Jetset (der Rest) auf ihre Art genauso mürbe macht wie ein Leben an der Mischmaschine, nur in der Gehaltsliga gibt es beträchtliche Unterschiede. Was stets gleich geblieben ist: Metallica sind Suchende. Immer noch gilt es, Themen zu finden, die abseits der Tagesnachrichten und zwischen Besuchen der Rennpferdstallung und des Edeljuweliers noch so richtig geil Sodbrennen oder Diarrhö diabolo machen. Schlechte Laune als gutes Geschäft. Darin ist jemand wie James Hetfield als Cheftexter ein Meister.

Am Scheiterhaufen

Im Ergebnis übersetzt sich das auf dem heute erscheinenden Werk in Titel wie Screaming Suicide oder Crown of Barbed Wire. Oder You Must Burn, ein Halbmarathon "in the name of hell", der daran erinnert, dass Metal gerne archaische Bilder bemüht, die des Menschen nicht so feine Seiten zeigen. So ein Scheiterhaufen war nicht immer ein Kalorienbomber zum Nachtisch – womit wir wieder beim Essen wären.

Metallica gründeten sich 1981 in Los Angeles. Zeitgemäß angetan in Wildwuchs-Vokuhilas und Jeans-Gilets wurden die ziemlich geladenen Tunichtgute eine der erfolgreichsten Bands der Welt und ein Entlastungsgerinne für Fans, die nach Feierabend gerne ausdrucksstark an der Luftgitarre solieren oder ihren Filialleiter zum Teufel wünschen. Neben den Gründern Lars Ulrich und James Hetfield sind seit 1983 Kirk Hammett und seit 20 Jahren Robert Trujillo mit dabei.

Schrott oder Edelmetall?

Nach entwicklungsbedingten Problemen mit Egos, Abusus und der Frage, wohin mit all dem Zaster, läuft das Werk längst wie geschmiert. Es ist ein Orden geworden, in dem sich verschiedene Glaubensrichtungen etabliert haben und der gerne ewige Fragen diskutiert: Ist St. Anger Schrott oder Edelmetall? War die Kooperation mit Lou Reed auf Lulu gaga? Oder grundsätzlicher: Wann sind die wahren, echten, harten Metallica eigentlich solche Disco-Luschen geworden? Lauter hehre Themen für die Doktorarbeit oder die Chatgruppe im Darknet.

Metallica

72 Seasons ist das elfte Studioalbum der mittlerweile angemessen verwittert ausschauenden Musiker. Der Titel soll laut James Hetfield den Ausbruch aus jener Zeit verdeutlichen, in der Eltern über Kinder das Sagen haben, ihnen vorgeben, was richtig und falsch sein soll, und ähnlich unzumutbarer Scheiß. Pädagogik heißt das Wort, nach dem er sucht.

Windeln in der Dunkelheit

Das Coverbild mit dem zerbrochenen Gitterbett und dem verkohlten Zeugs rundherum soll das illustrieren. If Darkness had a Son heißt ein Lied, und der Bube muss dort in den Windeln gelegen haben.

Fans mit weniger Tagesfreizeit nehmen derlei Tiefsinnigkeiten nicht so wahr, da geht es darum, fährt das Teil, oder saugt es? Da lautet die Antwort, sowohl als auch: Metallica spielen für alle etwas. Ein bisserl Thrash, ein bisserl Stadion-Metal, ein paar geile Hooks, ein paar routinierte Bretter, immer ein bisserl zu perfekt, aber das liebt die Gemeinde. Danebenhauen dürfen sie privat oder beim Therapeuten, nicht auf dem Album. Da bitte auf den Punkt nageln; und das können sie.

72 Seasons wird besser und stellenweise super, wenn man es in mehreren Etappen anhört und dazwischen Pausen macht. Kurz die Katze würgen oder so. Auf diese Art lässt sich sogar ein zwölfgängiges Menü verinnerlichen – ohne zu platzen. (Karl Fluch, 14.4.2023)