Das Schloss Faber-Castell in Stein: Zwischen Herbst 1945 und Herbst 1946 war hier das Press Camp für die Nürnberger Prozesse eingerichtet.

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Das Zitronenzimmer. Das Javanische Zimmer. Ein Kinderzimmer mit schneeweißen Schulmöbeln. Wer das Schloss Faber-Castell besucht, sieht in diesem wuchtigen neohistoristischen Bau, der kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende in Stein bei Nürnberg entstand, museal sorgsam Arrangiertes. Stein liegt an der südwestlichen Stadtgrenze Nürnbergs. Das burgartige Anwesen gehört jener Familie, die durch Blei- und Buntstifte berühmt und vor allem wohlhabend wurde.

Schloss für Journalisten

Kürzer als die Führung "Fertigung Holzgefasste Stifte" – Dauer: zwei Stunden – ist jene, die Außenstehenden Rätsel aufgeben dürfte: "Press Camp im Graf-von-Faber-Castell-Schloss".

Was verbirgt sich bitte dahinter? Uwe Neumahr erhellt das Rätsel, das in den vergangenen 20 Jahren bereits von Lokaljournalisten traktiert wurde – das vielleicht aufregendste Kapitel in der knapp 120-jährigen Geschichte des Anwesens des deutschen Familienunternehmens. Die Zeit zwischen Spätherbst 1945 und Herbst 1946. Als es ein internationales Presse-Camp war. Als hier zahlreiche Reporterinnen und Journalisten aus vielen Ländern untergebracht waren, die über den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher Hermann Göring, Hans Frank, Julius Streicher, Rudolf Heß, Albert Speer, Alfred Jodl etc. berichteten.

Nürnberg im Fokus

Das Exzeptionelle dieses Prozesses war: Es wurden erstmals vor einem internationalen Gerichtshof – jede der vier Siegermächte entsandte je einen Richter plus einem Stellvertreter – nicht als Standgericht noch als Schauprozess Anklagen wegen Planung und Durchführung eines Angriffskriegs, Verbrechen an der Zivilbevölkerung und millionenfachen Massenmords in Vernichtungslagern verhandelt.

Im Justizpalast von Nürnberg wurde aus zwei Gründen getagt. Das große Gebäude mit angeschlossenem Gefängnis war kaum beschädigt. Zum anderen war es eine symbolische Geist- und Geisteraustreibungsstätte – Nürnberg war Ort monumentaler Reichsparteitage gewesen, wovon noch heute das verfallende Reichsparteitagsgelände Zeugnis ablegt. Heute ist im Justizgebäude der Saal 600 ein Gedenkort.

Willy Brandt und zwei Manns

Uwe Neumahr interessiert sich auch für den Prozess, mehr noch allerdings für die prominenten Schreibenden, die ihn rapportierten und daher nach Nürnberg kamen und in Stein einquartiert wurden. Darunter waren Thomas Manns Tochter Erika, Willy Brandt, später Bundeskanzler der Bundesrepublik, damals noch ein Korrespondent skandinavischer Zeitungen, sowie der 22-jährige Kommunist Markus Wolf, der, wenige Jahre später zum Leiter des Auslandsgeheimdienstes der DDR aufgestiegen, 1974 durch einen im westdeutschen Bundeskanzleramt platzierten Spion Brandts Rückzwang bewirkte, die Amerikanerinnen Janet Flanner und Rebecca West (die eine Liebesaffäre mit einem der Richter unterhielt), Peter de Mendelssohn, später Biograf Thomas Manns, sowie, kurz aus München angereist, Erich Kästner. Nicht zu vergessen Golo Mann, Erikas Bruder, der 1985 für den in der Zitadelle Spandau einsitzenden Heß um Milde bat und sich so im rechtsnationalistischen Milieu verhedderte. Und als Simultandolmetscher Wolfgang Hildesheimer, der damals noch eine Malerkarriere anstrebte, darüber nachdachte, ob er, als Jude nach 1933 in Palästina und Großbritannien gelebt habend, sich in Deutschland niederlassen sollte, und später ein bedeutender Autor werden sollte.

Schuld und Sühne

Uwe Neumahr, "Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg ’45. Treffen am Abgrund". € 26,80 / 304 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, München 2023.
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Was sie erlebten, waren größtenteils verstockte, teils wie Rudolf Heß Demenz vorgaukelnde (wobei manche Beobachter meinten, er sei tatsächlich ein Simpel), teils sich pfaueneitel aufplusternde – Göring war darin besonders begabt – einstige Mitglieder der obersten Befehlsebene.

Was auch hartgesottene Kriegsreporter besonders erschütterte, waren die vorgeführten Filmaufnahmen aus den befreiten KZs. Es ging um Kollektivschuld und Demokratisierung, individuelle Verantwortung und den Holocaust, der sich dem Erfassen in Sprache entzog. Manchen Kommentatoren der Gegenwart schwebt ein analoges Verfahren wider Putin und dessen Schergen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vor.

Pittoreske Details

Es sind pittoreske Details, die Neumahr in seiner Parallel-Vignetten-Reihung detailreich wie lebendig präsentiert. Inklusive erstmals ausgewerteter Aufzeichnungen eines leitenden US-Offiziers. Seit Jahren in einer Münchner Literaturagentur tätig, schreibt er jedoch so, wie Literaturagenten, quasi die "Manager" von Autorinnen und Autoren, es ihren Sachbuch-Mandanten mittlerweile raten: nie das Publikum überfordern, es nicht durch stilistische Eleganz verstimmen. An nicht wenigen Stellen nimmt der informative Text wohl eher eine Maturaklasse in den Blick. (Alexander Kluy, 15.4.2023)