Khol fürchtet, dass wenn der russische Angriffskrieg Erfolg zeigt, die europäische Rechtskultur seit der Römerzeit weggewischt würde.

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Wien – Man muss kein Anhänger der ÖVP sein, um im "Österreichischen Jahrbuch für Politik" schreiben zu dürfen – auch wenn es eine Publikation der Politischen Akademie der Volkspartei ist. Man darf die ÖVP sogar fundamental kritisieren – und am spannendsten wird das, wenn man es von rechts angeht.

Der ÖVP fehlt ein klar konservativer Kurs

Der ehemalige "Presse"-Chefredakteur Andreas Unterberger macht das grundsatzfest und entschieden. In seinem Beitrag für das am Freitag erschienene Jahrbuch 2022 wendet er sich mit nostalgischem Blick den früheren Parteichefs Alois Mock und Wolfgang Schüssel zu, "die am deutlichsten und klarsten für das gestanden sind, was auch die inhaltliche Botschaft des Sebastian Kurz gewesen ist. Das war ein mutiger und klar konservativer Kurs, auf dem alle drei weit über die von der ÖVP immer verfolgten Interessen von Wirtschaftstreiben- den, Bauern und Besserverdienern hinaus gefahren sind – so unterschiedlich sie als Personen und Politiker auch gewesen sind".

Dass Unterberger Kurz schätzt, verhehlt er ebenso wenig wie seine Kritik an schwarzen Landeshauptleuten, an der Prinzipienlosigkeit und an der Personalauswahl ("einige auf ÖVP-Vorschlag entsandte Richter haben sich im VfGH massiv gegen die ÖVP gewandt"). Der Regierung Kurz II bescheinigt er, während der Pandemie fast alles richtig gemacht zu haben – und der Opposition, dass sie einen erfolgreichen Feldzug gegen den damaligen Kanzler und die ÖVP insgesamt geführt habe. Allerdings: "Der Feldzug hätte nie gelingen können, hätte die ÖVP ihn nicht mit allzu vielen eigenen Fehlern überhaupt erst ermöglicht."

Nicht nur Parteipolitik

Andreas Khol, der frühere Nationalratspräsident, hat als langjähriger Herausgeber des Jahrbuchs ein offenes Ohr für solche Kritik. Das Jahrbuch stehe "außerhalb der parteipolitischen Diskussion". Vielmehr gehe es um die Dokumentation: Welche Probleme wurden angegangen – und welche nicht?

Und er stellt Unterbergers Kritik in einen breiteren Kontext – nicht nur in ideologischer Hinsicht, sondern auch in ökonomischer. Unterberger sieht den größten Fehler der Regierung in der Pandemie in der unbedingten Zusage, die Wirtschaft zu retten, "koste es, was es wolle".

Heftige Ökonominnenkritik

Und genau da setzt auch der Erklärungsversuch der Ökonomin Monika Köppl-Turyna (Eco Austria) für die aktuell hohe Inflation und das Ausbleiben von Wachstum an: Vor Eintritt der multiplen Krisen habe man trotz lockerer Geldpolitik keine Inflation gespürt, weil die Globalisierung preisdämpfend gewirkt habe und das heimische Arbeitskräfteangebot hoch gewesen sei. Dies habe sich fundamental geändert, und die Regierung habe in den letzten Jahren "sehr stark auf die Sicherung der Einkommen geachtet", sagte sie bei der Präsentation des Bandes. Dabei sei vernachlässigt worden, dass mittel- und langfristig Unternehmenspleiten zur Marktbereinigung und zu einer effizienteren Wirtschaft beitragen.

Für die Zukunft mahnt Köppl-Turyna mehr Budgetdisziplin ein, aber auch ein Umdenken in der Arbeitsmarktpolitik, gerade wenn es um höher qualifizierte Fachkräfte gehe: "Wir werden unseren Arbeitsmarkt attraktiver machen müssen, denn alle Länder haben dasselbe Problem des Arbeitskräftemangels. Und die hohe Besteuerung von Einkommen macht den Arbeitsmarkt in Österreich für Fachkräfte nicht sehr attraktiv."

Klimawandel und Kriegsfolgen

Die Wifo-Ökonomin Margit Schratzenstaller stößt prinzipiell ins selbe Horn, nennt die diversen Hilfspakete (in Summe 46 Milliarden Euro bis 2026) einen starken Inflationstreiber und kritisiert, dass Unternehmenshilfen nicht an – ohnehin notwendige – ökologische Kriterien gebunden wurden.

Alles aber wird überschattet vom Krieg Russlands gegen die Ukraine. Khol sagt: "Das Wort Zeitenwende von Olaf Scholz ist ein sehr treffendes für das Jahr 2022" – und er warnt: Wenn der russische Angriffskrieg Erfolg zeige, dann sei die europäische Rechtskultur seit der Römerzeit weggewischt. (Conrad Seidl, 14.4.2023)