Illustration: Fatih Aydogdu

Es war ungewöhnlich mild an diesem Mittwoch Mitte Jänner in Lech. Eine Babysitterin brachte den kleinen Adam (Name von der Red. geändert) kurz vor Mittag in den Skikindergarten. Seine Familie war aus Wien zum Skiurlaub angereist. Wie jeden Tag gab es eine kleine Jause um 12 Uhr, ehe es um halb zwei für Adam und die zehn Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren wieder auf die Skipiste ging.

Diese kurze Zeitspanne versuchten die Ermittler seit Februar zu rekonstruieren. Denn hinter den Wellblechwänden des Kindergarten-Containers soll sich Schreckliches zugetragen haben. Ein junger Betreuer stand im Verdacht, Adam auf der Toilette vergewaltigt zu haben. Der Verdacht fußte auf Aussagen des Kindesvaters und Adams sowie auf dessen Verhaltensauffälligkeiten.

Die Ermittlungen wurden vor Ostern mangels Schuldbeweis eingestellt. Das ist kein Einzelfall: Von 1168 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern wurden letztes Jahr 589 eingestellt. Die Gründe dafür sind laut Justizministerium "vielfältig". Der Lecher Fall kann aber veranschaulichen, wie schwierig solche Verdachtsmomente für Kinder, Eltern, Beschuldigte und Behörden sind.

Ohnmacht

Für Adams Vater beginnt kurz nach dem Skiurlaub ein Ausnahmezustand, der bis heute anhält. Im Gespräch mit dem STANDARD merkt man ihm das zunächst nicht an. Er spricht nüchtern über den Urlaub und die Zeit danach: Zunächst habe er geglaubt, sein sonst so aufgeweckter Sohn sei nur krank. Er schläft schlecht, ist anhänglich und apathisch. Zu Hause in Wien sei es aber nicht besser geworden. Auch andere, die mit Adam zu tun haben, bestätigen Verhaltensänderungen, etwa seine Schwimmlehrerin. Sein Vater hakt immer wieder beim Dreieinhalbjährigen nach. Schließlich erzählt der ihm von Albträumen. Danach berichtet er laut Vater, dass ihm ein Mann "auf den Popo" gegriffen habe. Der Vater geht zu einer Psychotherapeutin. Zwei Wochen danach erstattet er Anzeige.

Viele Eltern wissen zunächst nicht, wie sie reagieren sollen, wenn ein Missbrauchsverdacht aufkommt. Adams Vater zögert nicht. Er hat sich in den letzten Jahren mit dem Thema beschäftigt, ist im Verein Bündnis Kinderschutz engagiert und sensibilisiert auch Adam dafür, was es heißt, wenn Grenzen überschritten werden.

Die Handlungen, die der Mann nach dem Urlaub setzt, zeugen von seiner Verzweiflung. Er kämpft gegen die Ohnmacht, die viele Eltern verspüren, wenn ein solcher Verdacht im Raum steht. Rasch hat er einen Anwalt, sucht die Öffentlichkeit. Er misstraut Behörden und der Gemeinde Lech, schickt einen Detektiv dorthin und zeigt die Polizei an. Ins Büro geht er mehrere Tage nicht. All seine Energie fließt in Adam – und darein, den Mann, der seinen Sohn missbraucht haben soll, zu überführen.

Abwehr

Er habe nur wenig Zeit, sagt Bürgermeister Gerhard Lucian, als er Anfang März die Tür zu seinem Büro im Rathaus in Lech öffnet. Zehn Minuten, maximal. Gefragt nach den Missbrauchsvorwürfen im Kindergarten fängt Lucian an, seine Hände zu kneten. Vom Verdacht habe er aus den Medien erfahren. "Ungläubig" und "schockiert" habe er die Vorwürfe des Vaters zur Kenntnis genommen. Dessen Anschuldigung, der Ort würde "mauern" und den Fall vertuschen, um Reputationsschäden abzuwenden, weist Lucian von sich. Mit den Behörden habe er stets eng zusammengearbeitet.

Gespräche mit Menschen vor Ort zeichnen ein Bild der Überforderung. Das könne doch nicht in Lech passiert sein! Dort, wo sich Luxuskarossen über steile Gässchen zu Fünfsternepensionen schlängeln, Menschen in Pelzmänteln flanieren und sich das Weiß der akkurat präparierten Pisten in den Champagnerflöten spiegelt. Dort, in dieser heilen, edlen Welt, kann sich doch nichts derart Furchtbares ereignet haben.

Nach Einstellung des Verfahrens wandte sich die Leiterin des Skikindergartens in einem Brief an das Dorf. Die Ermittlungen hätten "nun endlich Klarheit und Ruhe gebracht", schrieb sie. Im STANDARD-Gespräch sprach der Kinderclub von einer "extrem belastenden Zeit". Obwohl man selbst "niemals von den Behörden beschuldigt" worden sei, sei der Kinderclub Ziel "massiver und haltloser Angriffe und Anschuldigungen" geworden, die vonseiten des Bündnis Kinderschutz kamen und von den Medien "mit großen Schlagzeilen verbreitet wurden".

Beweis

Der Fall in Lech war anders als andere Missbrauchsverdachtsfälle. Das Bündnis Kinderschutz fütterte die Medien, organisierte eine Pressekonferenz mit dem Vater. Weitere Opfer und eine Zeugin standen im Raum, die Ermittler konnten das nicht bestätigen.

Seitens des Kinderclubs wurde früh betont, dass der angebliche Tathergang so gar nicht geschehen hätte können. Kinder seien nie alleine mit Betreuern im Raum, Türen stets offen. Der eingesetzte Detektiv sollte das widerlegen. Ein Video zeigt die Toilette. Zu sehen ist ein Erwachsener, der einem Kind bei offener Tür auf dem Klo hilft. Beim Händewaschen ist die Tür noch einen Spalt offen. Eine zweite Person ist nicht zu erkennen.

Von der Exekutive sah sich der Vater im Stich gelassen: Es werde zu langsam, zu lasch ermittelt; so habe nicht die Kriminal-, sondern die Dorfpolizei den Beschuldigten vernommen. Die Polizei kommentiert einzelne Vorwürfe nicht, weist sie aber entschieden zurück.

Im Visier der Ermittler stand ein Student Anfang 20. Der EU-Bürger arbeitete gemeinsam mit seiner Freundin als Betreuer im Kinderclub. Adam hatte ihn auf einem Foto als "bösen Mann" identifiziert. Der Verdächtige betonte stets seine Unschuld. Er sei nun erleichtert, aber auch schockiert ob der heftigen Anfeindungen, schrieb er dem STANDARD.

Um seine Befürchtungen zu begründen, hatte der Vater unter anderem ein Gutachten einer Psychotherapeutin eingeholt. Sie attestierte Adam eine "Verhaltensänderung", die sie auf ein "ihn verstörendes und als überfordernd erlebtes Erlebnis" zurückführte. Der Vater sah sich bestätigt. Die Psychotherapeutin betonte jedoch auf Nachfrage, dass man nicht sagen könne, ob ein Missbrauch passiert sei. Auch schambehaftete Erlebnisse, etwa wenn ein Kind in die Hose macht und deswegen gerügt wird, könnten zu starken Verhaltensänderungen führen, sagt die Psychotherapeutin.

US-Komiker und -Schauspieler Bill Cosby wurde erneut wegen sexuellen Missbrauchs schuldig befunden. Die Jury sah es als erwiesen an, dass Cosby die heute 64-jährige Judy Huth missbraucht hatte, als diese 16 Jahre alt war.
DER STANDARD
Vorsicht

Befragungen von Kleinkindern erfordern daher viel Fingerspitzengefühl – und vor allem geschultes Personal. Denn während Erwachsene sexuellen Missbrauch klar als diesen benennen können, ist dies bei Kindern nicht der Fall. "Sehr junge Opfer können meist nur sehr eingeschränkt vernommen werden – oft bleiben nur die Angaben der Eltern", sagt Hansjörg Mayr von der Staatsanwaltschaft Innsbruck.

Die größte Gefahr bei der Befragung seien hier Suggestivfragen, sagt Psychologe Dominik Rosenauer. Als psychologischer Sachverständiger ist er vor Gericht für die Befragung von mutmaßlichen Missbrauchsopfern zuständig. "Im Vorschulalter können Kinder ganz schwer zwischen Realität und Fantasie unterscheiden." Wenn Eltern dann gezielt nachfragen, etwa nach einem "bösen Erlebnis", seien Kinder fähig, Erinnerungen an einen Vorfall zu entwickeln, der sich womöglich gar nicht ereignet habe. "Das Kind erlebt es dann aber so, als wäre es tatsächlich geschehen", erklärt Rosenauer.

Was war noch mal das Wäh-Erlebnis? Folgt man Rosenauers Ausführung, steckt bereits in dieser harmlos anmutenden Frage Suggestion. Adams Vater stellte sie seinem Kind, im Beisein der Psychotherapeutin. Aus der Aufzeichnung, die dem STANDARD vorliegt, geht hervor, wie er verzweifelt versuchte, das Kind zum Reden zu bewegen. "Wenn du redest, dann passiert den anderen Kindern nichts", sagte er. Er lockte mit Gummibärchen und Motorradbildern. Und doch kamen meist nur "Ja"- oder "Nein"-Antworten. Adam widersprach sich häufig. Von der Aufzeichnung wusste die Psychotherapeutin laut eigenen Angaben nichts, der Vater hält fest, dass die Mitschnitte auf deren Anraten angefertigt worden seien.

Schutz

Gespräche wie diese seien "leider Standard", sagt Rosenauer. Viele Eltern würden sie im besten Glauben führen, weil sie denken, dass sie dadurch Beweise sichern. "Aber damit richten sie großen Schaden an." Wenn etwa nicht ausgeschlossen werden kann, dass Aussagen von Kindern durch Suggestion entstanden sind, kommt es zu Ermittlungs- und Verfahrenseinstellungen.

Aus Kinderschutzsicht sei die Vorgehensweise des Vaters äußerst bedenklich, kreiden Kinderschutzorganisationen an. Denn durch das mediale Vorpreschen wird zwangsläufig die Identität des Kindes offengelegt. Etwas, das der Vater und das Bündnis Kinderschutz in Kauf nehmen, um Eltern vorzuwarnen und andere Kinder zu schützen, so die Idee.

Dieser täterorientierte Zugang unterscheidet sich grundlegend von jenem offizieller Kinderschutzorganisationen. "Es ist nicht unsere Aufgabe, Ermittlungen einzuleiten oder zu sehen, ob es wahr ist oder nicht", sagt Petra Birchbauer vom Bundesverband Kinderschutzzentren. Der Fokus müsse immer beim Kind liegen.

Im Lecher Fall gehen die Behörden nicht von einem Missbrauch aus. Auf Adams Kleidung wurde keine DNA des Beschuldigten gefunden. Dass in Lech Leute von der Einstellung der Ermittlungen wussten, bevor er kontaktiert wurde, bestärkt den Vater in der Annahme, alle würden unter einer Decke stecken. Er will die Einstellung bekämpfen. Alle Argumente, die gegen einen Missbrauch sprechen, akzeptiert er nicht. (Lara Hagen, Maria Retter, Elisa Tomaselli, 14.4.2023)