Auf dem großen Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettoaufstandes 1943 sind alle Kämpfer bewaffnet. Sie halten Granaten, Molotowcocktails, Gewehre und Revolver in den Händen. Eine Jüdin, die versucht, ein Kleinkind aus den Flammen zu retten, stürmt nach vorn – wie die Freiheitskämpferin Jeanne d'Arc im Gemälde von Eugene Delacroix. Sie gibt die Interpretation vor: Der Aufstand, der nun genau 80 Jahre her ist, war ein Freiheitskampf.

Auf der Rückseite des großes Denkmals zeigt ein Flachrelief Kinder, Frauen, einen Rabbiner mit Thorarolle, gebückt gehende Alte und im Hintergrund wieder Flammen und Helme von Wehrmachtssoldaten. "Gang in die Vernichtung" heißt das Relief. Doch für den Künstler Natan Rapaport waren auch die Zivilisten Helden. Ihr Widerstand bestand darin, so lange wie möglich zu überleben, sich vor den Nazi-Schergen zu verstecken und – sollte es eine Chance zur Freiheit geben – diese zu ergreifen und auf die andere Seite des Ghettos zu fliehen. Wer bis zum Kriegsende durchhielt, hatte eine Zukunft vor sich.

Die Überlebende Krystyna Budnicka erinnert sich an den Aufstand im Warschauer Ghetto
AFP

Zu wenig Waffen

Zum 80. Jahrestag widmet das jüdische Geschichtsmuseum Polin diesem zivilen Widerstand die große Ausstellung "Um uns herum ein Flammenmeer. Die Schicksale jüdischer Zivilisten im Warschauer Ghettoaufstand". Autorin ist Barbara Engelking, die führende Holocaust-Forscherin Polens. Seit knapp 20 Jahren steht die 60-Jährige an der Spitze eines Forscherteams, das die Shoah im deutsch besetzten Polen auf eine ganz eigene Weise erforscht – interdisziplinär und aus der Perspektive der Opfer. "Mit der Waffe in der Hand kämpften nur rund 1.000 Juden und Jüdinnen. Denn es gab viel zu wenig Waffen", erklärt Engelking. "Die rund 50.000 Menschen, die im April 1943 von den einst über 450.000 Juden im Warschauer Ghetto noch am Leben waren, leisteten aber erheblichen zivilen Widerstand. Das wurde in der bisherigen Forschung oft übersehen."

Schon Monate vor dem eigentlichen Ausbruch des Aufstandes hatten sich die meisten Juden und Jüdinnen Verstecke gesucht – oft in Bunkern, Kellern und Kanälen. Sie hatten sich Essens- und Trinkvorräte angelegt, sorgten auch für eine Kochstelle, wo weder das offene Feuer noch Rauch das Versteck verraten durfte. "Die meisten hofften auf ein Weiterleben nach dem Krieg. Das wissen wir aus Briefen und Tagebucheintragungen. In der Ausstellung zeige ich ihren erbitterten Überlebenskampf. Er war auch immer wieder ein Ansporn für die bewaffneten Kämpfer und Kämpferinnen im Ghetto", erklärt die Chefin des Zentrums zur Erforschung des Holocausts an der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Die Nazis dokumentierten die Niederschlagung des Aufstands genau.
Foto: via www.imago-images.de

Tagebücher gelesen

Der zivile Widerstand im Ghetto stand in der Vergangenheit nur selten im Mittelpunkt des Interesses. "Wir mussten ihn für die Ausstellung nicht vollständig neu erforschen", so Engelking. "Aber wir haben doch in den letzten drei Jahren jedes Tagebuch, das in einem Warschauer Ghettobunker geschrieben wurde, erneut gelesen und versucht, mehr über die näheren Umstände seines Entstehens und über die Autoren herauszubekommen." Das sei auch gelungen. "Das Interessanteste sind Fotos aus dem Ghetto, die nicht von deutschen SS-Männern oder Wehrmachtssoldaten gemacht wurden, sondern von Polen", erläutert die Psychologin und Soziologin. "Diese Fotos zeigen eine andere Perspektive", so Engelking.

Vor gut 20 Jahren veröffentlichten Barbara Engelking und Jacek Leociak das Ergebnis ihrer bisherigen Forschungen: "Das Warschauer Ghetto. Ein Führer durch eine nicht mehr existierende Stadt". In einem Beipack steckten ein knappes Dutzend ausklappbarer Karten. Das Buch gilt heute als Standardwerk und wurde auch ins Englische übersetzt. Für eine deutsche Ausgabe fand sich bislang kein Verleger. "Wir bereiten gerade die dritte Auflage vor", so Engelking. "Denn wir konnten in den letzten Jahren durch archäologische Arbeiten und neu aufgetauchte Quellen offene Fragen zum Verlauf der Ghetto-Grenzen klären." Außerdem wisse man heute wesentlich mehr über die Jüdische Soziale Selbsthilfe, eine der wichtigsten jüdischen Organisationen im Ghetto, sowie über das Leben im Ghetto, die schwindende Hoffnung auf ein Überleben, die Kontakte nach draußen, Hilfsleistungen, aber auch Erpressung und Verrat durch Polen.

Lange versteckt

"Für viele Geschichtsinteressierte wird überraschend sein, dass das Warschauer Ghetto keineswegs am 16. Mai 1943 aufhörte zu existieren, wie der deutsche Kriegsverbrecher Jürgen Stroop offiziell verkündete. Vielmehr versteckten sich Überlebende auf dem Ghetto-Gelände noch mindestens sieben Monate lang – bis zum Januar 1944", erläutert Engelking. "Das sind unsere Helden und Heldinnen." Auch Krystyna Budnicka, die elf Jahre alt war, als der Ghetto-Aufstand am 19. April 1943 ausbrach, und die auch den Warschauer Aufstand 1944 überlebte, gehört dazu. "Ihr Überlebenswille, der aus all ihren Erzählungen spricht, ist immer wieder beeindruckend", so Engelking. Budnicka, die vor dem Krieg Hena Kuczer hieß, verlor ihre ganze Familie – die Mutter Cyrla, den Vater Józef Lejzor, die Schwester Perla und die Brüder Izaak, Boruch, Szaja, Ruben, Chaim und Jehuda.

Krystyna Budnicka überlebte im Ghetto.
Foto: JANEK SKARZYNSKI / AFP

Aus dem Bunker an der Zamenhof-Straße, ganz in der Nähe des heutigen Polin-Museums, konnten sich von den zunächst 30 Versteckten nur sie und ihre Cousine Anna retten. Als die Deutschen das Ghetto Haus für Haus abfackelten und auch ihr Keller glutheiß wurde, meisterten sie den tagelangen Weg durch die Kanäle. Auf der anderen Ghettoseite half ihnen die polnisch-jüdische Organisation Zegota, ein neues Versteck und später weitere Verstecke zu finden. Es war wohl auch Zegota, die für Kost und Logis bei christlichen Polen bezahlte. Während Anna nach dem Krieg nach Israel emigrierte, blieb Hena in Polen. Als Krystyna Budnicka lebt sie bis heute hochbetagt in Warschau. Auch am 80. Jahrestag des Aufstandes wird sie im Museum Polin wieder ihre Geschichte erzählen.

Kein Interesse für Täterperspektive

"Was uns nicht interessiert, sind die Täter", erklärt Engelking. "Das geht so weit, dass wir uns bemühen, möglichst keine von den Deutschen gemachten Fotos aus dem Ghetto zu zeigen." Über viele Jahre habe sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, die Opfer mit den Augen der Täter zu sehen, weil es kaum andere als diese meist inszenierten Propagandabilder gab. "Diese erneute Viktimisierung der Opfer hatte uns schon immer gestört. Während der Arbeiten zur Ausstellung ist es uns gelungen, neue, das heißt bisher unbekannte Fotos zu finden, die von Polen gemacht wurden. Wir hoffen sehr, dass in den nächsten Jahren weitere Fotos aus dem Ghetto auftauchen werden, vielleicht sogar Bilder, die Juden und Jüdinnen aus ihren Verstecken heraus machen konnten." (Gabriele Lesser aus Warschau, 19.4.2023)