Es ist der 30. März, der 400. Tag des Krieges in der Ukraine, und Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von Luftangriffen und Verbrennungen, von Minen, die russische Soldaten in Parks und Autos zurücklassen, von in Waschmaschinen und Klavieren versteckten Granaten. Selenskyj ist aus dem kriegsgeschundenen Land im österreichischen Parlament zugeschaltet. Fünf Gehminuten entfernt lauscht der SPÖ-Abgeordnete Robert Laimer den Worten des ukrainischen Präsidenten und denkt sich: "Eigentlich müsste ich drüben sitzen." Laimer sitzt nicht im Parlament, sondern in seinem Büro.

Elf Minuten wird die Rede dauern. Gleich zu Beginn, als Selenskyj sich für die Behandlung ukrainischer Verletzter in österreichischen Kliniken bedankt, beschleicht Laimer ein Gefühl, das er später so beschreibt: "Ich habe mit mir gerungen." Er überlegt ins Parlament zu laufen, bleibt am Ende aber doch sitzen. So erzählt er es heute. Und inzwischen sagt er: "Das war ein Fehler."

Bei der Rede von Präsident Selenskyj fehlten viele Abgeordnete – auch der SPÖ.
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Mehr als die Hälfte des roten Parlamentsklubs fehlte bei der Rede – darunter die Parteichefin und außenpolitische Sprecherin Pamela Rendi-Wagner, die sich im Nachhinein mit der Angabe von Krankheitsgründen entschuldigte. Die SPÖ sieht sich seither mit dem Vorwurf konfrontiert, sie stehe nicht auf der Seite der Ukraine, sondern im Eck der Wladimir-Putin-Versteher – zumindest sei sie anschlussfähiger für russische Propaganda. Die FPÖ boykottierte den Termin, sie verließ den Raum geschlossen, als der Präsident das Wort ergriff. Die Freiheitlichen, die stets eine enge Verbindung zur Partei des russischen Präsidenten gepflegt haben, hatten ihren Protest aber zuvor angekündigt. Eine inhaltliche Erklärung für die absenten 22 von insgesamt 40 SPÖ-Abgeordneten blieb hingegen aus.

Auf die halb leeren Reihen auf der Seite der SPÖ folgte eine Welle der Empörung. Die roten Parlamentarierinnen und Parlamentarier nannten später terminliche Gründe, sie führten die Politik der ukrainischen Regierung gegenüber den Gewerkschaften als Grund an oder, dass die Rede nicht Teil einer Nationalratssitzung war, sondern auf Betreiben des ÖVP-Parlamentspräsidenten Wolfgang Sobotka passiert war. Sie verwiesen auf die Neutralität und das Fernbleiben anderer Parteien.

Zwei Mandatarinnen bedauerten ihr Verhalten in einer Stellungnahme an den Falter: Cornelia Ecker entschuldigte sich, "sollte mein Fernbleiben Irritationen ausgelöst haben". Sabine Schatz gestand ein, "offenbar die Bedeutung der Veranstaltung" unterschätzt zu haben, ihre Abwesenheit betrachte sie "im Nachhinein als Fehler". Laimer, der Wehrsprecher seiner Partei ist, sprach da noch nicht von einem Fehler. Er hielt fest, er hätte ein anderes Format für den Auftritt bevorzugt. Aber er fand nun auch lobende Worte für die Rede, die er im Vorfeld – unter anderem mit dem Argument, "Kriegsrhetorik hat im Hohen Haus keinen Platz" – abgelehnt hatte.

Mehr kontra USA als pro Russland

Bis zuletzt soll im SPÖ-Klub die Sorge umgegangen sein, Selenskyj könne Österreich um militärische Hilfe bitten. Dabei schnitt Selenskyj bisher noch jede seiner Reden im Ausland auf das jeweilige Publikum zu: Das amerikanische bat er um mehr Waffen, vor dem österreichischen sprach er von Humanität. Militärisches sparte er völlig aus.

Bis zum Überfall auf die Ukraine waren die wirtschaftlichen Bande zwischen Österreich und Russland eng. Fast zwei Jahrzehnte lang war die Besuchsdiplomatie zwischen den beiden Ländern rege, begleitet von schmeichelnden Worten und freundschaftlichen Gesten – von Politikerinnen und Politikern jeglicher Couleur. Der russische Angriffskrieg wird hierzulande von allen Parteien als solcher bezeichnet. Der SPÖ-Vorstand hielt vor wenigen Tagen erneut fest, dass er diesen "aufs Schärfste" verurteile. Dennoch mischen sich oftmals Zwischentöne in die Bewertung. Die These, die Verbündeten der Ukraine würden eine Mitschuld am Krieg tragen, ist in der SPÖ weitverbreitet. Abgesehen vom Hang zur Neutralität spielt dabei oft die Abneigung gegen die Nato als angebliches Instrument des US-Imperialismus eine Rolle.

Robert Laimer hat oft selbst so ähnlich argumentiert. Nun sagt er, er sei "geläutert". Er habe schlaflose Nächte hinter sich, aber die "Psychohygiene" sei notwendig: "Vielleicht war der eine oder andere bei uns, einschließlich mir, zu nachgiebig gegenüber Russland, weil die Rote Armee bei der Befreiung Österreichs auf der sicheren Seite stand."

Der Politologe Anton Pelinka drückt es weniger verständnisvoll aus: Bei Sozialdemokraten und Linken wirke nach, "dass viele nicht wirklich kapiert haben, dass Russland nicht die Sowjetunion ist". Und "dass für viele die Sowjetunion eine zwar nicht unbedingt geglückte, aber doch eine Alternative zum US-Kapitalismus war". Pelinka attestiert der SPÖ "mehr Antiamerikanismus als eine prorussische Orientierung".

Emil Brix, Historiker und ehemaliger Botschafter Österreichs – unter anderem in Russland –, ortet neben "einer gewissen antikapitalistischen Grundstimmung bei der SPÖ" eine "generell in Österreich verbreitete Schwäche der außenpolitischen Analyse in den Parteien". Hinzu komme "die weitverbreitete Vorstellung", es reiche moralisch aus, neutral und friedensbewegt zu sein, um ideologische Pflichten zu erfüllen. Brix, der heute Leiter der Diplomatischen Akademie Wien ist, sagt, das sei auch eine Spätfolge der Friedensbewegung, in der viele Politschaffende von heute, vor allem aus der Linken, sozialisiert wurden. Viele von ihnen würden die Neutralität bis heute "moralisch überhöhen".

Überholte, naive Einschätzungen

Andreas Schieder, EU-Delegationsleiter der SPÖ, hält fest: "Es gibt Leute, die in der Logik des Kalten Krieges steckengeblieben sind, die die Entwicklungen in Russland weder reflektiert noch eingeordnet haben." Schieder war einmal Klubobmann im Nationalrat. Sein Vorgänger in dem Amt, der SPÖ-Langzeitpolitiker Josef Cap, befindet, der von der Ukraine anvisierter Nato-Beitritt habe die Eskalation mitbefeuert. Er sehe die Gefahr eines Atomkrieges. Selenskyj, sagt Cap, "hätte es noch mehr um einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen gehen müssen".

Der Abgeordnete Christoph Matznetter argumentiert ähnlich. Er ist Vizepräsident des von ihm mitgegründeten Forums Österreich-Russland. Das Forum sei seit dem Krieg "de facto stillgelegt", Matznetter plädiert weiter für Dialog: Zu glauben, "nur durch Appelle Frieden stiften zu können", halte er ebenso für naiv wie die Annahme, es sei "verrückt, Friedensinitiativen zu setzen, die dazu führen, dass Mord und Totschlag aufhören".

Den Rücktritt des Schwechater SPÖ-Chefs David Stockinger, der nach einem Ö1-Beitrag über Fotos von ihm in Uniform des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes stolperte, kommentiert der Landesgeschäftsführer der SPÖ Niederösterreich, Wolfgang Zwander, so: Der Ukrainekrieg sei "eine Zäsur", die viele ältere Einschätzungen "leider als zu idealistisch, vielleicht auch naiv, jedenfalls aber vollkommen überholt und falsch erscheinen lässt". Die Abgeordnete Julia Herr etwa bezeichnet ihre Ablehnung der Sanktionen gegen Moskau im Jahr 2014, nach der Annexion der Halbinsel Krim, heute als falsch. Und Laimer sagt nun: "Wir müssen alles tun, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt." Jetzt plane er selbst aber erst einmal, mit einem Hilfstransport in die Ukraine zu fahren. (Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, 19.4.2023)