Zwischen dem malerischen Rasen von Wimbledon und der Abfahrt im Gefangenentransporter liegt nur ein Schnitt. Das Doku-Porträt "Boom! Boom! The World vs. Boris Becker" auf Apple TV+ zeigt den Aufstieg und Fall des ehemaligen Tennisprofis, erzählt von Weggefährten und dem einstigen Wunderkind selbst.

Becker ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Als TV-Experte findet er greifbare Sprachbilder, die zwar nicht immer stichfest sind, aber meistens funktionieren. Jahrelang analysierte er in eloquentem Englisch Tennismatches aus Wimbledon für die BBC. Die Geschichte einer neuen Dokumentation dreht sich jedoch um Becker selbst; und sie beginnt mit Deutschlands einstigem Tennisgott in Tränen.

Boris Becker in der neuen zweiteiligen Doku von Alex Gibney auf Apple TV+
Foto: Apple TV

Erschöpft von juristischen Verfahren macht er sich Vorwürfe, verkündet seine Lebensweisheit: Alles passiert aus einem bestimmten Grund. Doch Becker ist verwirrt, er fragt sich: "Was habe ich getan, dass mir so etwas passiert?"

Die Frage muss rhetorisch gemeint sein, so naiv kann Becker gar nicht sein. Der 55-Jährige wurde im vergangenen Jahr von einem Londoner Gericht zu einer zweieinhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil er in seinem Insolvenzverfahren Vermögenswerte verschwiegen hatte — 20 Jahre nachdem er bereits in Deutschland wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden war.

"Boom! Boom! The World vs. Boris Becker" versucht zu erklären, wie Becker im Gefängnis landete. Auf Glanzlichter wie den Wimbledon-Sieg 1985 im Alter von 17 Jahren folgen all seine Rückschläge bis hin zum absoluten Nullpunkt im vergangenen Frühjahr.

Für die Dokumentation wurde Becker zweimal ausführlich interviewt. Einmal im Jahr 2019, ein weiteres Mal zwei Tage vor seiner Verurteilung in London. Der Kontrast zwischen den beiden Versionen des Mannes bildet den eindrücklichsten Moment der Doku. Wirkt der um drei Jahre jüngere Becker noch gewitzt, kampfeslustig und gestylt wie ein Banker von der Wall Street, ist der angeklagte Becker ein Wrack, gezeichnet vom Prozess; die Tränensäcke ausgeprägt, die Augen gerötet.

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Der Gschichtldrucker

Die zweiteilige Doku über mehr als 200 Minuten enthält Originalaufnahmen von Wimbledon-Turnieren von den 1980ern bis heute. Legenden des Sports erinnern sich an Matches gegen Becker, die jeweils wie ein Western inszeniert sind: Der introvertierte Schwede Björn Borg, sein fairer Landsmann Stefan Edberg und auch der aufbrausende John McEnroe kommen zu Wort. Beckers Landsmann und Erzfeind Michael Stich erzählt, dass er sich bis heute über Beckers Mätzchen aus einem Duell in Wimbledon ärgert.

Der aktuelle Weltranglistenerste Novak Djokovic, den Becker von 2013 bis 2016 trainierte, bricht eine Lanze und lobt ihn dafür, ihm wahre mentale Stärke verliehen zu haben. Und Beckers erster Manager, der Rumäne Ion Tiriac, erzählt, dass er Becker beim Kennenlernen etwas pummelig fand. Auf die Frage, wie viel er durch die Arbeit mit Becker verdiente, sagt er nur: "Nicht genug."

Beckers Karriere ist voll von bunten Geschichten, er gibt sie gerne und ausgeschmückt wieder. Aber ist Becker am Ende des Tages nicht auch ein Gschichtldrucker? Regisseur Alex Gibney schlüpft selbst in die Rolle des Erzählers, und zwar immer dann, wenn sich Widersprüche in den Aussagen ergeben. Oscar-Gewinner Gibney ("Taxi zur Hölle") hat vor zehn Jahren eine Doku zum gefallenen Radprofi Lance Armstrong produziert und Erfahrung mit streitbaren Charakteren aus dem Spitzensport gesammelt. Wenn Becker sich also in seinen Aussagen widerspricht, wirkt er gereizt. Gibney versucht dahinterzukommen, ob Becker lügt oder sich nur falsch erinnert.

Der Regisseur zieht letztlich selbst ein Fazit und findet eine ungewöhnliche Erklärung für Beckers Leben: In Matches suchte er stets eine aussichtslose Situation. Denn wenn er diese dann überstand und trotzdem siegte, fühlte sich Becker wie ein Genie. Vielleicht, vermutet Gibney, legte Becker diese Taktik auf das Leben abseits des Platzes um.

"Ich bin selbst schuld"

Teil zwei der Doku handelt vom großen Fall der Privatperson Becker. Die Rückblicke auf seine erfolgreiche Tenniskarriere werden weniger, dafür rücken Skandale ins Licht. Eine Affäre, als seine erste Ehefrau zum zweiten Mal schwanger war. Seine Wurschtigkeit in finanziellen Bereichen. Der Weg zu seiner Privatinsolvenz und Verurteilung. "Ich gab Geld aus, das ich während meiner aktiven Karriere verdient habe", sagt Becker. "Danach habe ich meinen Lebensstil zu langsam angepasst. Ich bin selbst schuld."

Sportfans ist die Doku zu kurz, Normalverbrauchern zu lang. Den ersten Teil feiern Becker-Fans, im zweiten Teil blutet ihnen das Herz. "Boom! Boom! The World vs. Boris Becker" zeichnet das Bild eines Mannes, der handelt wie ein Kind, das sich die Hand auf der heißen Herdplatte verbrennt und sie trotzdem immer wieder berühren möchte.

Agree to disagree

Becker, das erzählte Regisseur Gibney kürzlich, hatte ein Recht darauf, das Material und die Doku vor Veröffentlichung zu sehen. Ihm stand frei, seine Meinung kundzutun, er hatte aber keine Entscheidungsmacht, was es in die Letztversion schafft und was nicht. Mit manchen Teilen dürfte Becker nicht glücklich gewesen sein, Gibney und Becker hielten sich an die Formel: agree to disagree.

Heute hofft Becker, seine Privatinsolvenz bald überstanden zu haben. Dafür macht er viel Werbung, ist bei großen Turnieren als TV-Analyst für Eurosport im Einsatz und hat sich ein Exklusivinterview mit Sat.1 wenige Tage nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gut entlohnen lassen. Für den Deutschen Tennisverband ist er beratend tätig. Unentgeltlich, wie es heißt. (Lukas Zahrer, 19.4.2023)