Blum erinnert sich gut an die Lehrstunden ihres Vaters. Mit zehn Jahren zeigte er ihr an einer übergewichtigen toten Frau, wie man eine Leiche versorgt, deren Darm noch voll ist. Wie man den After tamponiert und zunäht. Wie man den Geruch ausblendet.
Was hier in vier Sätzen zusammengefasst wurde, beschreibt der Tiroler Autor Bernhard Aichner in seinem Thriller Totenfrau über mehrere Seiten und sehr explizit. In kurzen, bildhaften Sätzen erzählt er die Geschichte von Brünhilde Blum, die nach dem Tod ihres Vaters dessen Aufgaben als Bestatterin übernimmt. Er erzählt aber auch die Geschichte jener Frau, die sich nach dem vermeintlichen Unfalltod ihres Mannes an den Verantwortlichen rächt.
Für Aichner war die Erzählung über eine weibliche Frauenfigur, die auf eine "männliche" Art und Weise tötet, "die richtige Geschichte zur richtigen Zeit". Der 2014 erschienene Thriller war monatelang auf den österreichischen Bestsellerlisten, wurde in 13 Sprachen übersetzt und auch verfilmt. Die Serie ist seit einigen Monaten auf der Streamingplattform Netflix abrufbar. Zuvor wurde sie im November des vergangenen Jahres im ORF ausgestrahlt, mit bis zu 714.000 Zuseherinnen und Zusehern bei der ersten Doppelfolge. Laut Aichner dürften Produzenten bereits an einer zweiten Staffel arbeiten, die voraussichtlich 2024 gedreht werden soll.
Übersetzung mit Stil
Die explizite Szene von der Versorgung der alten Dame hat es nicht in die Verfilmung geschafft, wohl aber in die Übersetzungen. Denn: Anders als bei Drehbüchern sollte bei literarischen Übersetzungen auf originalgetreue Wiedergabe geachtet werden. "Seine Babys" – so nennt Aichner die Ausgaben – hat er alle zu Hause, verstehen kann er nur die englische und italienische Version. Bei den anderen Sprachen setze er auf Vertrauen, dass der Rhythmus, den er durch seine "Ein-Wort-, Zwei-Wort-, Drei-Wort-Sätze" vorgebe, übernommen werde: "Das, was ich in jeder Sprache machen kann, ist zu schauen, ob meine Punkte an der richtigen Stelle sind."
Aichner ist kein Literaturübersetzer, den Beruf stellt er sich aber schwierig vor: "Ich glaube, es ist immer ein bisschen ein Grenzgang: Was ist mein Ausdruck, wie kreativ bin ich, und wie weit weiche ich ab und mache den Text zu meinem eigenen?" Als Autor hätte er gerne, dass sein Text ganz unverändert bleibt, ergänzt jedoch: "Mir ist aber bewusst, dass das nicht möglich ist." Welchen Zugang haben also die 13 Übersetzerinnen und Übersetzer gewählt, die Totenfrau in eine andere Sprache übertragen haben? DER STANDARD hat mit fünf von ihnen gesprochen.
Çiğdem Canan Dikmen ist eine davon. Sie übersetzt vom Deutschen ins Türkische und vergleicht ihre Arbeit mit dem Reproduzieren eines Gemäldes: "Man muss die Pinselstriche beachten, also den Klang der Sätze, Rhythmus, Stil und Inhalt, und eine Reproduktion machen." Würde sie etwa die für Aichner typischen kurzen Sätze zu einem langen zusammenfügen, wäre das Buch von ihr und nicht vom Autor, sagt Dikmen bei einem Videogespräch. Beim Versuch, wortgetreu zu übersetzen, kann die Sprache aber durchaus auch im Weg stehen. Die italienische Sprache etwa würde längere Satzstrukturen bevorzugen, betonte Roberta Zuppet, die den Thriller ins Italienische übersetzte und die Anfrage des STANDARD schriftlich beantwortete. Aichners Stakkatostil hätte sie durchaus in Schwierigkeiten gebracht. Daher habe sie versucht, sehr kurze Sätze miteinander zu verbinden und dem Stil des Autors dennoch treu zu bleiben.
Übersetzung mit Hürden
Übersetzt man einen Text, der das Sterben zum Inhalt hat, rücken neben der Sprache auch Kultur und Religion in den Fokus – insbesondere bei Begräbnisritualen. "Damit man sie nicht sehen kann, wird in Korea die Leiche mit der Kleidung umwickelt und eingepackt", sagt Somin Song, die sich aus Südkorea für ein Interview nach Wien zuschaltet. Sie hat mit ihrer Übersetzung von Totenfrau eine Version des Buches geschaffen, die mit dem Deutschen nicht einmal die Schriftzeichen teilt – und wahrscheinlich sogar in Nordkorea anders klingen würde. Geändert wurde laut Song aber nur der Titel, im Koreanischen hätte dieser nämlich "Die Leichenwäscherin" gelautet, was für Koreanerinnen und Koreaner seltsam und unangenehm gewesen wäre. Deswegen habe sich der Verlag für den Titel Keine Beerdigung nötig entschieden, sagt die Südkoreanerin. Auch die Übersetzerin Dikmen erzählt von anderen Begräbnisritualen in ihrem Land: "In der Türkei kleiden wir Leichen nicht, und wir schminken sie nicht."
An welchen Stellen die Übersetzerinnen Schwierigkeiten mit dem Inhalt hatten? Aufgrund der Details ist Dikmen vor allem die Versorgung der alten Dame in Erinnerung geblieben. Da die Türkin für ihre Arbeit alle Sätze visualisiere, war diese Szene für sie eine besondere Herausforderung. Mercédesz Kovács – sie hat den Text ins Ungarische übertragen – spricht im STANDARD-Interview gar von einer Übersetzungsarbeit, die "anstrengend für ihre Seele" gewesen sei: "Der Text war leicht übersetzbar, der Inhalt jedoch außerordentlich brutal und blutig."
Übersetzung ohne Anerkennung
Dennoch ist "die Frage der Unsichtbarkeit des Übersetzers oder der Übersetzerin allgegenwärtig". So beschreibt Laura Manero, die Aichners Buch ins Spanische übersetzt hat und für ein schriftliches Interview zur Verfügung stand, die Situation ihrer Berufsgruppe. Dikmen erinnert sich an einen Zeitungsbeitrag über ein von ihr übersetztes Buch. Im Gegensatz zur Autorin wurde sie jedoch nicht erwähnt. "Ich habe viel gearbeitet, ungefähr acht Monate lang, aber niemand dachte an mich", sagt sie. Auch die meisten Leserinnen und Leser würden nicht darüber nachdenken, von wem eine Übersetzung stammt. Die Übersetzerinnen erwähnen trotzdem mehrmals eine positive Entwicklung gegenüber der Vergangenheit.
Vergleicht man die Cover der fünf Buchversionen, ist lediglich Songs Name auf dem Buchumschlag neben Aichners zu sehen. Sie erzählt aus Südkorea, dass die Wichtigkeit der Übersetzung in Zeiten internationaler Bekanntheit koreanischer Filme und Literatur allmählich anerkannt werde. Die erfolgreiche Serie Squid Game etwa stammt aus Korea, genauso wie der Oscar-gekrönte Film Parasite. Obwohl sie die Rolle von Übersetzenden in Korea als "sehr wichtig und groß" bezeichnet, sagt Song: "Trotzdem kann ich das Gefühl nicht ausräumen, dass Übersetzer in Korea zweitklassig behandelt werden."
Übersetzung mit etwas Lob
Und wenn nun jemand einem Buch in seiner übersetzten Form ein Lob ausspricht, wem gilt dieses dann – Autor oder Übersetzerin? "Obwohl das ein bisschen narzisstisch klingen kann: beiden!" Natürlich sei das Buch hauptsächlich das Werk des Autors, aber auch Übersetzende würden es mitgestalten, so Manero. Dikmen, die der Meinung ist, dass Ölüme Eş auch ihr Buch sei und nicht ausschließlich Aichners, sagt: "Ein gut geschriebenes Buch kann wegen der Übersetzung sehr schlecht sein, aber ein schlechtes Buch kann man zu keinem großartigen machen." Auch Song erwähnt, dass die Schuld für ein uninteressantes Buch bei den Übersetzenden gesucht werde, würde ein Lob aber dennoch "hauptsächlich dem Autor" vergönnen.
Aichner betont, er sei grundsätzlich dafür, immer alle zu loben. Im konkreten Fall der britischen Tageszeitung Telegraph, die von Aichners Talent schreibt, Leser fesseln zu können, sagt er jedoch: "Ich würde schon sagen, das nehme ich zu 95 Prozent." Die Englisch-Übersetzung stammt von der verstorbenen Anthea Bell, der einzigen Übersetzerin, mit der Aichner in Kontakt war.
Dennoch hätte Dikmen Lust, ein weiteres Aichner-Buch zu übersetzen, und wünscht sich eine signierte Originalausgabe. Mit diesem war sie bisher nicht in Kontakt, ein anderer Autor habe sie aber einmal in der Türkei besucht: "Das war eine sehr schöne Überraschung für mich." Koreanisch-Übersetzerin Song lässt dem Autor im Interview Grüße ausrichten und ist überzeugt: "Idealerweise sollte ein Übersetzer mit dem Autor in Kontakt stehen, dann kann der Übersetzer bei Unklarheiten nachfragen, aber normalerweise geschieht das nicht. Koreaner haben eine sogenannte Ppalli-Ppalli-Kultur, das heißt eine schnelllebige. Daher müssen wir schnelle Ergebnisse liefern."
Übersetzung ohne Mensch
Schnelle Ergebnisse liefern auch Übersetzungsprogramme. Mit DeepL oder ChatGPT etwa lassen sich Texte einfach und schnell in andere Sprachen übertragen. Spanisch-Übersetzerin Manero findet die Ergebnisse maschineller Übersetzungen "beeindruckend" und nutzt sie nach eigenen Angaben für die Übersetzung von geschäftlichen oder technischen Texten. Für literarische Arbeiten greife sie aber nicht darauf zurück: "Das Ergebnis wird korrekt sein – es gibt viele mögliche Übersetzungen desselben Satzes –, aber die Wirkung ist vielleicht nicht die gewünschte."
Keine der fünf Frauen sieht den Beruf derzeit durch Übersetzungsprogramme gefährdet. Für Song besteht darin sogar eine Chance: "Ich halte sie für eine Art verbesserte Wörterbücher." Beim Ausblick in die Zukunft gibt sich Manero dagegen vorsichtig. Sie bezeichnet Literaturübersetzung als "die letzte Bastion menschlicher Übersetzung. Derzeit ist es so – in ein paar Jahren, wer weiß!" (Christina Rebhahn-Roither, Anna Wiesinger, 22.4.2023)