Das erste Bilddokument nach der Katastrophe: Der Roman "Victory City" war längst geschrieben, als Autor Salman Rushdie Opfer eines Attentats wurde, bei dem er ein Auge verlor.


Foto: Twitter / Rushdie

Die Geschichte der alten Reiche wurde meistens in Form von Epen überliefert. Die Ilias von Homer ist das Epos vom Untergang Trojas. Das indische Mahabharata erzählt vom Kampf zweier Königsfamilien. Das ebenfalls indische Jayaparajaya unterbreitet der Nachwelt die Geschichte von Bisnaga, das im 16. Jahrhundert das größte Reich der Welt war. Wenn Sie von Jayaparajaya (so viel wie: "Sieg und Niederlage") noch nichts gehört haben, hat das einen guten Grund: Es ist ein Fake-Epos, auf dem Salman Rushdie Victory City beruhen lässt.

Der wohl berühmteste lebende Schriftsteller vom indischen Subkontinent widmet sich mit seinem Roman Vorgängen vor allem in Gegenden rund um die tatsächliche Stadt Goa. Die "Siegesstadt" Bisnaga ist allerdings pure Fiktion. Sie verdankt sich einer einzigen legendären Figur, die auch die Heldin des Romans ist: Pampa Kampana, Prophetin, Poetin und Wundertätige.

Allerhand Unheiliges

Der Text von Victory City war schon fertig, als Rushdie 2022 mit einem Messer attackiert wurde und dabei ein Auge und nur mit knapper Not nicht sein Leben verlor. Der Anschlag galt dem Autor von Die satanischen Verse, dem Roman, mit dem Rushdies Schicksal für alle Zeiten verknüpft sein wird. In Victory City würde ein fanatischer Muslim auch allerhand Unheiliges finden, in der Tendenz ist es jedoch ein ökumenisches Buch, das mehr an einer denkbaren mütterlichen Politik als an Orthodoxien interessiert ist.

Vor allem aber ist es ein Buch über das Erzählen selbst, über das vielschichtige Verhältnis zwischen Legenden und Fakten. Es ist Rushdies vielleicht ehrgeizigstes Werk, allerdings auch eines seiner anfechtbarsten. Pampa Kampana erfährt ihre ersten Berufungen neunjährig nach einem traumatischen Erlebnis. Ihre Mutter stirbt in einer Selbstverbrennung bei einem Massenselbstmord von Verwitweten. Sie reagieren damit auf kriegerische Ereignisse, die in Victory City eher summarisch genannt werden.

Göttliche Hilfe

Pampa ist nun allein in der Welt, findet Zuflucht bei einem Heiligen, der sie jedoch missbraucht. Pampa wird aber auch von einer Göttin zu ihrem Medium erkoren und altert danach deutlich langsamer. Sie sieht Generationen auch ihrer eigenen Nachfahren an sich vorbeiziehen.

Pampa Kampana ist auch die Figur, die Bisnaga in die Welt bringt. Sie lässt diese Stadt buchstäblich aussäen, Häuser und Bewohner wachsen schnell heran, und da sie deswegen keine Zeit für den Erwerb einer eigenen Geschichte hat, holt Pampa das im Eiltempo nach: Sie flüstert den Menschen von Bisnaga Biografien ins Ohr. Später flüstert sie ihnen vieles ein, was gegen Größenwahn, Krieg und dynastischen Todestrieb geht. Pampa ist eine Stimme der Aufklärung in einem vormodernen, imperialen Indien.

Sie ist auch Rushdies Stimme; er arbeitet hier mit doppelbödiger Konstruktion: Ein Erzähler lässt uns wissen, dass ihm das Manuskript des "unsterblichen Meisterwerks" von Kampana vorliegt und dass er es einfach nacherzählt. Er bezeichnet sich als jemanden, der "weder Gelehrter noch Poet" ist, sondern "der gern Fäden spinnt". Das mit der schlichteren Sprache hat noch eine zusätzliche Dimension darin, dass wir das Jayaparajaya als Sanskrit-Text denken sollen, während Rushdie auf Englisch schreibt. Die deutsche Übersetzung ist (mit gelegentlichen Blüten wie "tuntiger Tinnef" für "girly garbage") in Ordnung.

Schlichtere Form

Wichtig sind nicht nur historische Quellen. Die vielen wundersamen Begebenheiten haben ihren Bezugsrahmen auch in der heutigen populären Kultur, bei den akrobatischen Übungen des Martial-Arts-Kinos wie bei den Erbfolgekriegen einer Serie wie Game of Thrones. Das zentrale Problem seiner Konstruktion aber holt Rushdie natürlich nie ein: die Berufung auf einen außerordentlichen Referenztext, auf den er in schlichterer Form, dabei aber doch auch wuchernd und mit vielen gleichsam "typisch epischen" losen Fäden, reagiert.

Rushdie wird häufig der Postmoderne zugerechnet, auch dem magischen Realismus. Victory City liest sich nun tatsächlich wie die verspätete Meistererzählung einer Postmoderne. Als Roman gewinnt Victory City dadurch wenig. Die meisten Figuren wirken beliebig, halb Zitate, halb Thesen. Gemessen an Rushdies bedeutenden Werken – an Die satanischen Verse, an Mitternachtskinder und an dem autobiografischen Joseph Anton – wirkt dieser Roman aber wie eine Fleißaufgabe. (Bert Rebhandl, 20.4.2023)