Sie sind ein beliebtes Thema der Science-Fiction: Welten, die direkt neben uns existieren, die wir aber nicht wahrnehmen, weil sie nicht mit unserer Welt wechselwirken.

Ob etwas, das gar nicht mit uns wechselwirkt, überhaupt einen Anspruch auf Existenz stellen kann, ist eine philosophische Frage. Doch was ist mit einer Welt, die nur äußerst schwach mit der unseren interagiert und daher nur sehr schwer zu entdecken ist?

Um so ein Phänomen handelt es sich bei der von Physikerinnen und Physikern postulierten Dunklen Materie. Sie wechselwirkt nur – oder je nach Modell fast nur – mittels der Gravitation mit der für uns sichtbaren Welt. Und weil die Gravitation die schwächste aller Naturkräfte ist – so schwach, dass sie etwa in der Elementarteilchenphysik bedenkenlos ignoriert werden kann –, ist es äußerst schwierig, etwas über sie herauszufinden.

Dieses "Quintett" aus fünf Galaxien, aufgenommen vom James-Webb-Weltraumteleskop, wurde am 12. Juli letzten Jahres veröffentlicht. Ohne Dunkle Materie ist ihre Form nicht zu erklären.
Foto: NASA, ESA, CSA, STScI, Webb ERO Production Team/Handout via REUTERS

Doch trotz der Schwierigkeiten ist die Frage nach der Natur der Dunklen Materie keine philosophische Spitzfindigkeit, sondern eine der spannendsten Fragen der modernen Physik. An ihr können sich neue Theorien und Modelle messen.

Wie das gehen könnte, erklärt nun eine Forschungsgruppe in einer neuen Studie im Fachjournal "Nature Astronomy". Sie zeigt, dass sogenannte Gravitationslinsen Rückschlüsse auf die wahre Natur der Dunklen Materie erlauben – und zwar der seltene Spezialfall mehrerer hintereinanderliegender Gravitationslinsen.

Leicht oder schwer

Heute ist die plausibelste Erklärung für Dunkle Materie, die etwa 80 Prozent der Masse des Universums ausmacht und dafür sorgt, dass Galaxien nicht auseinanderbrechen, dass es sich um bisher unentdeckte Teilchen handelt, die außerhalb des in Teilchenbeschleunigern beobachtbaren Spektrums liegen. Paradoxerweise wissen die Forschenden aktuell aber immer noch nicht, in welche Richtung sie mit ihren Experimenten blicken müssen: Die neuen Teilchen könnten entweder ungewöhnlich schwer oder ungewöhnlich leicht sein.

Die hypothetischen schweren Dunkle-Materie-Teilchen werden "Wimps" genannt. Das Wort, das im Englischen "Weichei" heißt, steht für die englische Abkürzung von "schwach wechselwirkendes massereiches Teilchen". Sie stammen aus einer hypothetischen, "supersymmetrischen" Erweiterung des bisher gültigen Standardmodells der bekannten Materie und gelten derzeit als besonders aussichtsreiche Kandidaten zur Erklärung der Dunklen Materie.

Diese Visualisierung zeigt, wie Gravitationslinsen funktionieren.
Bild: NASA , ESA , and D. Player (STScI )

Doch es gibt auch eine Alternative, die sogenannten Axionen. Sie entstammen ebenfalls aus in der Teilchenphysik sehr beliebten (und für Nicht-Teilchenphysiker nicht immer auf Anhieb nachvollziehbaren) Symmetrieüberlegungen. Im Gegensatz zu den Wimps sind sie äußerst flüchtig und leicht.

Beide konnten bisher, trotz anfänglich großer Hoffnungen, auch in aufwendigen Experimenten wie in dem weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC am Kernforschungszentrum Cern in mittlerweile über 15 Jahre dauernder Suche nicht nachgewiesen werden.

Als Informationsquelle bleibt also nur die Astronomie, doch da Dunkle Materie, wie der Name schon sagt, kein Licht aussendet, ist es äußerst schwierig, mehr darüber zu erfahren. Nur die Gravitation gibt über die große Menge der unbekannten Materie Aufschluss.

Die länglichen orangen Strukturen sind sogenannte Einstein-Ringe. Es handelt sich um ferne Galaxien, die durch vor ihnen liegende Massen wie von einer Linse verzerrt erscheinen.
Foto: NASA, ESA, CSA, STScI via AP

Raumkrümmung

Doch Hilfe kommt von unerwarteter Seite. Gravitation ist nach heutigem Verständnis nicht einfach eine Kraft, sie ist eine Eigenschaft des Raums selbst. Massive Körper bewegen sich aufeinander zu, weil der Raum ihre Bahnen zueinanderkrümmt.

Das bedeutet, dass der gekrümmte Raum um kosmische Massen auch Licht ablenkt wie eine Linse. Trotz der nur winzigen Krümmung des Raums lässt sich der Effekt eindrucksvoll in Astronomiebildern ferner Galaxien beobachten. Es kommt zur Bildung von "Einstein-Ringen", bei denen eigentlich annähernd runde Objekte langgezogen erscheinen und manchmal sogar einen geschlossenen Ring bilden können.

Gravitationslinsen verhalfen der Wissenschaft inzwischen zu zahlreichen faszinierenden Entdeckungen. Nun öffnen sie der Astronomie offenbar eine weitere Tür. Das Team um Erstautor Alfred Amruth von der Universität Hongkong zeigt nun in der neuen Studie, dass Einstein-Ringe, die nicht durch eine einzelne, sondern durch mehrere hintereinanderliegende Gravitationslinsen entstehen, die eine Art kosmisches Fernrohr bilden, das mehr über Dunkle Materie verrät.

Die Gruppe legt dar, dass Dunkle Materie aus Wimps wie eine Menge isolierter Teilchen erscheinen würde. Doch Axionen würden durch ihre Quanteneigenschaften zu Interferenzen neigen und Wellen ausbilden. Der Effekt sollte durch Gravitationslinsen sichtbar werden, berichten die Forschenden.

Mehrere vom Weltraumteleskop Hubble aufgenommene Gravitationslinsen, die charakteristische Einstein-Kreuze zeigen. Dabei wird durch die Linse das dahinterliegende Bild vervielfacht. Für die aktuelle Studie ist das Bild oben rechts interessant. Es deutet darauf hin, dass die Dunkle Materie der im Vordergrund liegenden Linsengalaxie aus Axionen besteht.
Foto: NASA , ESA , A. Nierenberg (JPL) and T. Treu (UCLA)

Amruth und sein Team beschränken sich nicht darauf, die neue Methode vorzuschlagen, sie versuchen auch, herauszufinden, welche Erklärung für Dunkle Materie besser mit den bisher gesammelten Daten über ferne Galaxien übereinstimmt.

Und offenbar sehen sie eine klare Präferenz. Einige beobachtete Anomalien zwischen vorhergesagter und beobachteter Helligkeit von Galaxien, die durch mehrere Gravitationslinsen verzerrt wurden, werden durch Dunkle Materie aus Axionen erklärt, während sie bei Dunkler Materie aus Wimps bestehen bleiben.

Modellsystem von Hubble entdeckt

Als Beispiel führen die Forschenden das System HS 0810+2554 an, ein vom Weltraumteleskop Hubble entdecktes Gravitationslinsensystem. Es wird durch Dunkle Materie aus Axionen sehr gut beschrieben, während Wimps versagen.

Ob es sich um einen Durchbruch beim Verständnis von Dunkler Materie handelt, wird sich erst zeigen. Auch die Argumente für Wimps sind noch nicht vom Tisch. Und es gibt andere Erklärungen, etwa ein Übermaß an Schwarzen Löchern.

Und es gibt fundamentalere Kritik, die meist von außerhalb der Physik kommt. Dunkle Materie, heißt es dort, sei eine Ad-hoc-Erklärung mit dem Hauptziel, das derzeitige physikalische Weltbild zu stützen. Doch Dunkle Materie ist inzwischen trotz der offenen Fragen ein vergleichsweise gut untersuchtes Phänomen mit zahlreichen für Experimente zugänglichen Implikationen.

Eine künstlerische Darstellung der Dunklen Materie um unsere Milchstraße.
European Southern Observatory (ESO)

So ist Dunkle Materie etwa mittels Computersimulationen gut zu beschreiben, weil sie von allen Kräften außer der Gravitation unbeeinflusst ist. Durch das Fehlen der Wechselwirkung mit Licht war Dunkle Materie nicht in der Lage, Energie abzustrahlen und sich wie die bekannte Materie zusammenzuballen. Sie umgibt deshalb größere Materieansammlungen wie ein Nebel.

In ihrer Studie verweisen die Forschenden auf neue geplante Laborexperimente zur Entdeckung von Axionen, die mehr Klarheit über die mysteriöse Substanz bringen sollen. (Reinhard Kleindl, 22.4.2023)