Im Gastblog stellt die Kunst- und Architekturhistorikerin Anna Mader-Kratky ein Projekt vor, in dem ein längst vergangenes Wien greifbar gemacht werden soll.

Dreidimensionale Darstellungen von Gebäuden in verkleinertem Maßstab haben eine lange Tradition. Diese "Architekturmodelle" wurden früher aus Holz, Gips oder Pappe angefertigt, um räumliche Zusammenhänge besser zu veranschaulichen. Mit computergestützten Verfahren haben wir heute revolutionäre Möglichkeiten zur Herstellung digitaler 3D-Modelle, am Bildschirm sowie im 3D-Druck. Die maßstabsgetreue Darstellung von Baukubaturen dient Architekten seit jeher zur Präsentation ihrer Entwürfe, ermöglicht aber genauso die Rekonstruktion historischer, weil nicht mehr erhaltener oder stark veränderter Bauzustände von Gebäuden, Baukomplexen oder ganzen Stadtteilen. In diesem Zusammenhang bieten digitale 3D-Modelle auch für die kunsthistorische Forschung völlig neue Möglichkeiten, wenn es darum geht, zweidimensionale Bildquellen wie Grundrisse, Gemälde oder Kupferstiche nicht nur vor dem sprichwörtlichen "geistigen Auge", sondern tatsächlich ins Räumliche zu übertragen.

Das barocke Wien digital rekonstruieren

Unter Berücksichtigung des erhaltenen Baubestandes sowie verlässlicher historischer Stadtpläne und Stadtansichten ist eine großflächige Rekonstruktion der Verbauungsstruktur der Inneren Stadt Wien ab dem 18. Jahrhundert mit hoher Detailgenauigkeit möglich. Während historische Ansichten unseren Blick auf diesen barocken Stadtraum durch vorgegebene Blickachsen leiten und Bauten oftmals in geschönter Relation zueinander zeigen (Bedeutungsperspektive!), ermöglicht das digitale 3D-Modell einen fundamentalen Perspektivenwechsel. Realistisch dargestellte Blickwinkel ohne Verzerrungen sowie frei wählbare Standpunkte erlauben eine ganz neue Qualität in der Visualisierung urbaner Topographie.

Der Neue Markt in Wien, Blick nach Süden, in einem Kupferstich von Salomon Kleiner (1724).
Foto: ÖAW, Sammlung Woldan
Der Neue Markt in Wien, Blick nach Süden, in der digitalen Rekonstruktion (Zustand um 1760).
Foto: ÖAW/Archaeo Perspectives – Anna Mader-Kratky, Günther Buchinger und Alarich Langendorf, 2023

Pilotstudie am Neuen Markt

Die Erstellung eines digitalen barocken Stadtmodells wird derzeit am Forschungsbereich Kunstgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (IHB/ÖAW) in einer Pilotstudie erprobt. Die Vision ist es, auf dieser Basis den personellen, finanziellen und zeitlichen Aufwand für ein Gesamtmodell der barocken Inneren Stadt zu konzipieren. Zentral ist dabei die Frage, ob die historischen Bild- und Schriftquellen für eine wissenschaftlich fundierte Rekonstruktion der Barockstadt Wien ausreichen.

Als Modellregion dient dazu der Neue Markt, der im 18. Jahrhundert eine Vielfalt an Neubauten, barockisierten Fassaden und historischer Bausubstanz bot. Als Bauherren trafen hier der hohe und niedere Adel, der Kapuzinerorden (mit dem Kaiserhaus als Stifter), der Magistrat und das Bürgertum aufeinander und traten mit ihren Bauten in Konkurrenz zueinander.

Der Neue Markt in Wien, Blick nach Norden, in einem Gemälde von Bernardo Bellotto (1759/60).
Foto: KHM-Museumsverband, Gemäldesammlung, GG 1668 Kunsthistorisches Museum: Der Mehlmarkt in Wien (khm.at)
Der Neue Markt in Wien, Blick nach Norden, in der digitalen Rekonstruktion (Zustand um 1760).
Foto: ÖAW/Archaeo Perspectives – Anna Mader-Kratky, Günther Buchinger und Alarich Langendorf, 2023

Obwohl von den zu rekonstruierenden 20 Objekten nur zwei Barockhäuser und die Kapuzinerkirche erhalten sind, geben uns historische Ansichten einen guten Eindruck von allen vier Platzseiten und dokumentieren den barocken Baubestand. Viele dieser Bildquellen sind bereits online zugänglich, wie über die umfangreiche Online Sammlung des Wien Museums, die über Zeichnungen, Druckgrafiken und Gemälde des Neuen Marktes genauso verfügt wie über alte Postkarten und Schwarz-Weiß-Fotografien. Auf dieser Grundlage können wir nun sämtliche von außen wahrnehmbaren Oberflächen des Neuen Marktes, also die Kubaturen und Fassadengliederungen sowie Dachlandschaften der den Platz säumenden Gebäude digital rekonstruieren.

Dabei wird jeder Bau anhand des zur Verfügung stehenden Quellenmaterials digital modelliert und anschließend zu einem Gesamtmodell des barocken Marktplatzes zusammengefügt. Als Zeitschnitt wurden die frühen 1760er Jahre gewählt, um die barocke Bautätigkeit in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen.

Rekonstruiert werden auch für die Raumwirkung wesentliche Objekte wie der zentrale Providentia- oder Donnerbrunnen, benannt nach dem Bildhauer Georg Raphael Donner, der die Brunnenfiguren im Auftrag der Stadt Wien in den Jahren 1738/39 schuf. Die originalen Bleifiguren sind heute Teil der Sammlungen des Wien Museums (am Neuen Markt wurden 1873 Bronzeabgüsse aufgestellt) und werden in Zukunft dort zu besichtigen sein, genauso wie das digitale 3D-Modell des Neuen Marktes, das dem Publikum den ursprünglichen Aufstellungskontext des Brunnens vor Augen führt.

Neue Erkenntnisse

Schon die historischen Ansichten des Neuen Marktes vermitteln uns einige Landmarks, die das barocke Platzensemble ehemals dominierten, wie das digitale 3D-Modell nun eindrucksvoll bestätigt. Dazu zählte etwa die (nicht mehr erhaltene) städtische Mehlgrube, deren Bau nicht nur durch seine enorme Höhe und den weit in den Platz hineinragenden Mittelrisalit bestach, sondern auch durch seinen aufwändigen Fassadendekor. Nur wenige in Wien tätige Architekten waren damals in der Lage, einen Monumentalbau dieser Größenordnung zu entwerfen. Zu ihnen zählte Johann Bernhard Fischer von Erlach, dem der Bau seit jeher zugeschrieben wird.

Die Mehlgrube am Neuen Markt in der digitalen Rekonstruktion (Zustand um 1760).
Foto: ÖAW/Archaeo Perspectives – Anna Mader-Kratky, Günther Buchinger und Alarich Langendorf, 2023

Mit Hilfe des digitalen 3D-Modells können nun weitere markante Gebäude auf dem Neuen Markt identifiziert werden, die bislang nur im Hintergrund oder gar nicht zu sehen waren, wie etwa das Haus Nr. 1 an der Ecke zur Kupferschmiedgasse. Hier ließ der kaiserliche Hofapotheker Johann Friedrich Günter von Sternegg 1723 ein an drei Seiten freistehendes Wohnhaus errichten, indem er drei bestehende Häuser vereinen und neu fassadieren ließ. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dem mächtigen Mansarddach, das den Repräsentationsanspruch dieses Bürgerhauses genauso unterstreicht wie die vorgelagerten Arkaden, hinter denen die Hofapotheke lag. 1895 musste das Barockhaus einem Neubau weichen, der nach dem Zweiten Weltkrieg in vereinfachter Form wiederaufgebaut wurde.

Neuer Markt Nr. 1 in der digitalen Rekonstruktion (Zustand um 1760).
Foto: ÖAW/Archaeo Perspectives – Anna Mader-Kratky, Günther Buchinger und Alarich Langendorf, 2023

Alle Modellierschritte erfolgen in enger Zusammenarbeit von kunsthistorischer Expertise und technischer Umsetzung. Der daraus resultierende Dialog wirft zwangsläufig Fragen auf, die ohne den Versuch einer dreidimensionalen Umsetzung kaum in die Diskussion eingeflossen wären und damit in der kunsthistorischen Bewertung zu wenig Berücksichtigung gefunden hätten. Das betrifft tatsächliche Gebäudehöhen ebenso wie das räumliche Verhältnis von Bauten, also Aspekte, die historische Ansichten zumeist idealisiert zeigen.

Erste Ergebnisse des Forschungsprojekts zur digitalen Rekonstruktion des barocken Neuen Marktes werden am 21. April 2023 an der ÖAW präsentiert. Das fertige Modell wird ab Ende des Jahres im Wien Museum zu sehen sein. (Anna Mader-Kratky, 21.4.2023)