Die legendäre Hermes Baby: Schreibmaschine von Friederike Mayröcker.

Foto: Österreichische Nationalbibliothek
Achtung! Das Vergangene findet jetzt statt! Elfriede Jelinek

"JETZT" – das steht für die Aktualität und Zeitgenossenschaft der österreichischen Literatur, aber auch für den sich immer jetzt ereignenden Akt sinnlich-künstlerischer Weltwahrnehmung und jenen Moment, in dem eine Idee entsteht, ein Satz zu Papier gebracht wird. "ALLES" bezieht sich auf die Bedeutung der österreichischen Literatur über die Landes- und Sprachgrenzen hinweg, auf nicht weniger als den Anspruch, alles in den Raum der Literatur aufzunehmen – jenen imaginären Raum, der weit über die Ränder des Nationalen oder die territorialen Grenzen Österreichs hinausreicht.

Elfriede Jelinek.
imago/SKATA

"ALLES" verweist schließlich auf die hohen künstlerischen wie moralischen Ansprüche jener Autor:innen, die seit den 1970er-Jahren vehement auf Geschichtsvergessenheit und Erinnerungsverluste in der österreichischen Gesellschaft hingewiesen haben und hinweisen. "Das Vergangene", heißt es im eingangs zitierten Wort Elfriede Jelineks, "findet jetzt statt", es reicht in unsere Gegenwart hinein und beschäftigt uns immer aufs Neue.

Ein zwischen "Jetzt" und "Alles" aufgespanntes Panorama der österreichischen Literatur der letzten 50 Jahre kann – jenseits von Klischees über vermeintlich "typisch Österreichisches" – nur vielstimmig und sinnlich, zugleich aber auch kontrovers und widerspruchsreich sein.

Jetzt

nein, weder du noch ich
werden noch einmal so werden,

werden, wie wir jetzt, jetzt, ja jetzt!! sind!!! Gerhard Rühm
Gerhard Rühm.

Das "Jetzt" zu bannen zählt seit jeher zu den Hauptanliegen der Literatur: als Epiphanie in Momenten gesteigerter, ästhetisch vermittelter Wahrnehmung; als Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse und Bewusstseinszustände; oder als momenthafte Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinneseindrücke und Rezeptionsebenen (etwa wenn ein Lautgedicht zugleich als bildliches, sprachliches und akustisches Phänomen aufgefasst wird).

Das "Jetzt" wird an zentraler Stelle bei Autor:innen zum Thema, die ganz unterschiedliche ästhetische und weltanschauliche Positionen vertreten. Im Werk Gerhard Rühms, Mitglied der legendären "Wiener Gruppe", die der multimedial agierenden österreichischen Nachkriegsavantgarde entscheidende Impulse gab, finden sich bereits in einem frühen Text programmatische Worte, ein Manifest des Gegenwärtigen, das bis heute gilt: "ich denke jetzt. immer ist jetzt." (Gerhard Rühm: fenster. Rowohlt 1968) Im Wort "jetzt" schießen die Vorstellungsinhalte der abstrakten Begriffe Präsenz und Evidenz zusammen: "Jetzt" verheißt ein unmittelbares Erleben der Gegenwart, ein Dasein und Hiersein, meditatives Innehalten, aber auch Plötzlichkeit und Tempo.

Ernst Jandls Sprech- und Lautgedichte leben von der Präsenz und Intensität des Augenblicks ihrer Realisierung, sei es durch den Autor selbst, dessen Stimme fortlebt in unzähligen Tonaufnahmen, oder durch die Leser:innen beim lauten oder inwendig leisen Lesen. Gegenwärtigkeit streben auch die großangelegten epischen Erzählungen Peter Handkes an. Eine intensivierte Wahrnehmung, das voraussetzungslose Aufnehmen und Nachvollziehen visueller, akustischer, gestischer und sprachlicher Phänomene der Außenwelt stehen im Zentrum seiner Poetik.

Friederike Mayröcker.

Gegenwart des Erzählens

Aus einzelnen, immer im konkreten Moment gemachten Beobachtungen und Eindrücken leitet das wahrnehmende Subjekt – und mit ihm der Autor – Muster, überindividuelle "Formen" ab, die in einem nächsten Schritt in sprachliche Bilder übersetzt werden. Handkes ausführliche und detailgenaue Erzählungen in der Vergangenheitsform tragen die Anwesenheit der Dinge der Außenwelt, den stets gegenwärtigen Akt ihrer Aneignung und die Gegenwart des Erzählens in sich. Oft ist dabei das Unterwegssein, die Erfahrung des bevorzugt zu Fuß durchquerten Raums von entscheidender Bedeutung: Ihre Streifzüge unternehmen die Figuren und Erzähler in Handkes Werk innerhalb einer in viele Richtungen offenen Zeit.

Auch für das Werk des in seiner Muttersprache Slowenisch schreibenden Kärntner Autors Florjan Lipuš sind Intensität der Wahrnehmung und Genauigkeit der Beschreibung grundlegend. Momenthafte Sinneseindrücke und (Selbst-)Beobachtungen evozieren in seinen Texten starke Erinnerungsbilder: Immer wieder setzt sich Lipuš dabei mit seiner Familiengeschichte, mit der Vertreibung und Ermordung der Kärntner Slowen:innen in den Jahren des Nationalsozialismus auseinander. Die Geister und Schauplätze der Vergangenheit werden sinnlich gegenwärtig: "Wenn er in den Momenten der Stille die Augen schloß und unter den Lidern die alten Orte aufleuchteten, spürte er die Nähe seiner verstorbenen Frauen, der Mutter und der Großmutter." (Florjan Lipuš: Seelenruhig. Jung und Jung 2017)

Gerhard Roth.

Innere Vorstellungsbilder und äußere Erinnerungsspuren überlagern sich in literarischen Texten, die das Medium Fotografie, die Zusammenhänge zwischen Bildlichkeit, Einbildungskraft und Gedächtnis reflektieren. Das Jetzt der Fotografie, jener Augenblick, der qua Auslöser im Bild gebannt und doch uneinholbar vergangen ist, bleibt aus der Zeit gefallen und zugleich vollends in ihr verhaftet. Als Moment ist dieses Jetzt zuweilen trügerischer Anker der Erinnerung, aber auch Anreger der literarischen Fantasie: "Die Fotografie ist immer ein Rettungsring für die Erinnerung. Nach dem Moment der Aufnahme verstehen wir sie schon nicht mehr, und das Nichtverstehen wird mit der Zeit immer größer und größer", heißt es in Gerhard Roths kurz vor seinem Tod fertiggestelltem Roman Die Imker (S. Fischer 2022).


Ernst Jandl und Friederike Mayröcker.

Arno Geigers Impulsgeber

Das Nichtverstehen und Verstehenwollen, das Verblassen und Erstarken der Erinnerung thematisiert Monika Helfer in Büchern, die den Lebensgeschichten ihrer Familienmitglieder gewidmet sind und in denen Fotografien, Gemälde und literarisch verdichtete Erinnerungsbilder eine wesentliche Rolle spielen. Anonyme, zufällig gefundene Fotografien wiederum verwendet Arno Geiger als Impulsgeber für Fiktion und Spekulation. Sie verheißen Zugang zu Alltag und Lebenswelt, scheinen randvoll mit gelebter Erfahrung zu sein und spiegeln doch nur einen kleinen, oft kleinformatigen Ausschnitt eines letzthin unbekannt bleibenden Lebens – eine Lücke, einen Raum des Unbekannten, den Geiger mit erfundenen Lebensgeschichten füllt.

Mit Resten und Überbleibseln der Vergangenheit, die mal als materielle Dinge, mal als schmerzhafte Erinnerungen in die Gegenwart drängen, setzt sich Josef Haslinger in seinem immer wieder auch autobiografisch grundierten Werk auseinander. In Phi Phi Island (S. Fischer 2007) berichtet der Autor davon, wie er und seine Familie 2004 auf einer thailändischen Insel den Tsunami überlebten. Nach seiner Rückkehr nach Österreich erreichten Haslinger verloren und zerstört geglaubte persönliche Gegenstände und Dokumente, die den Tsunami im thailändischen Hotelsafe überdauert hatten, per Post.

Vergangenheit und Gegenwart

In ihrer Textproduktion der Gegenwart verpflichtet ist Elfriede Jelinek: Es ist ein nie versiegender Strom medial zugerichteter Sprache, den sie in ihrem Werk in artifizielle Sprachgebilde zu verwandeln weiß. Darin zeigen sich im Zerrspiegel die großen Themen der Gegenwart, immer auch in ihrer historischen Verstrickung: die Verwüstungen des Kapitalismus, der Größenwahn autokratischer Machthaber:innen, die Abschottung Mitteleuropas gegenüber Migrant:innen.

Robert Menasses Romane zur Gegenwart und Zukunft Europas entfalten einen Erinnerungsraum, in dem sich Verdrängtes, historische Phantasmen im Dienste einer aktuellen Identitätspolitik und tiefsitzende nationale Prägungen mischen. Auf aktuelle gesellschaftspolitische Debattenlagen reagiert Marlene Streeruwitz mit einer Romanprosa, in der sie Eindrücke und Gedankenströme ihrer Figuren in Kürzestsätzen, einem genuinen "Stakkato"-Stil wiedergibt, der immer wieder neu im Moment ansetzt und gerade in seiner formalen Strenge und Künstlichkeit einen Sog des Unmittelbaren entwickelt: "Und jetzt." (Marlene Streeruwitz: Tage im Mai. Roman dialogué. S. Fischer 2023)

H. C. Artmann.
Foto: Sepp Dreissinger,

"Präsenzmaschinen"

Mit Gegenwartsphänomenen und den (medialen) "Präsenzmaschinen", die unentwegt Gegenwart produzieren und kommentieren, setzt sich Kathrin Röggla auseinander. Ihre Prosa- und Theatertexte, Hörspiele und Essays stehen in einer Reihe rezenter Werke von österreichischen Gegenwartsautor:innen, die sich aktuellen Themen mit avancierten ästhetischen Ansätzen und genreübergreifenden Arbeitsweisen widmen: Ann Cotten, Oswald Egger, Brigitta Falkner, Anna Kim, Teresa Präauer oder Clemens J. Setz zählen dazu.

In eine von Cyborgs bevölkerte Zukunft weisen Oswald Wieners Überlegungen zum Verhältnis von menschlicher und künstlicher Intelligenz. die verbesserung von mitteleuropa, roman lautet der Titel seiner legendären Publikation aus dem Jahr 1969, der bis heute für eine poetische Mission und die für die österreichische Literatur charakteristische enge Verbindung von Ästhetik und Politik, literarischer und gesellschaftspolitischer Avantgarde steht.

& Alles

Wer alles liest, hat nichts begriffen, sagte er. Thomas Bernhard
Thomas Bernhard.

Nicht weniger als das Ganze unserer kreatürlichen und geistigen Existenz wird in den atemlosen Texten des Überbietungs- und Übertreibungskünstlers Thomas Bernhard zum Thema. Buchstäblich alles, was gesagt werden kann, kann in seiner Suada-artigen Prosa auch zum Gegenstand der Negation und zur Zielscheibe der Kritik werden. Dabei unterlaufen sich Bernhards All-Sätze ständig selbst: "Alles Gesagte stellt sich über kurz oder lang als Unsinn heraus [...]." (Thomas Bernhard: Alte Meister. Werke, Band 8. Suhrkamp 2008)

Josef Winklers Mixtur

Im Wechselspiel von Behauptung und Verneinung, von Teil und Gegenteil entfaltet sich der Furor der Bernhard’schen Monologe, in denen die unentwegt Sprechenden lustvoll ihre eigenen Maximalansprüche konterkarieren – ihre Ansprüche an alles, an alles Mögliche, an ein allumfassendes Ganzes: "Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene." (Alte Meister, Suhrkamp 2008)

Ein ungeschöntes Bild des nur vermeintlich "guten" österreichischen Ganzen zu zeichnen, die Verstrickungen von Katholizismus, Autoritätshörigkeit, Heimattümelei und Dorfromantik freizulegen, trat seit den 1970er-Jahren eine Literatur an, die sich der "Demontage der Idylle" mit den Mitteln des realistischen Erzählens verschrieb. In Franz Innerhofers autobiografisch gesättigten Romanen werden unzumutbare Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf dem Land und im Dorf, archaisch anmutende Familienstrukturen im bäuerlichen Milieu, aber auch die Mühsal und Monotonie von Hand- und Fabrikarbeit schonungslos geschildert.

Ilse Aichinger.

Bilder von Österreich

Gernot Wolfgruber beschreibt das "Kleineleutedasein" und den Berufsalltag von Handwerkern und Arbeitern, die in Werkstätten und an Maschinen schuften, um darüber zusehends sich selbst zu verlieren und die Sinnhaftigkeit ihres Tuns infrage zu stellen. Gelingt den Protagonist:innen dieser und anderer Texte einer sozialkritischen Literatur jener Jahre der soziale Aufstieg, so bleibt er mit Scham und Verlusterfahrungen verbunden, widerspruchsreich und letzthin unbefriedigend.

Eine ganz andere, radikal expressive Sprache fand der Kärntner Autor Josef Winkler ab Ende der 1970er-Jahre für eine spezifisch österreichische Mixtur aus repressivem Katholizismus, patriarchaler Gewalt, verdrängter Sexualität und dörflicher Enge. Außenseitertum und Auflehnung gegen all das (Gott, Vater, Kirche, den Tod) werden bei Winkler mit den Mitteln der Sprache durchexerziert.

Josef Haslinger.

Künstlerisches Chaos

Auf das Ganze des Daseins zielt der Anspruch Friederike Mayröckers an ihr dichterisches Lebenswerk: "nicht nur das Geschriebene auch die Existenz musz poetisch sein", heißt es in cahier (Suhrkamp 2014), poetischen Aufzeichnungen zwischen Prosa und Lyrik. Ihre Wiener Arbeits- und Wohnstätte verwandelte Mayröcker in ein allumfassendes Zetteluniversum: Eine riesengroße Menge an Papieren, Mappen, Fotos, Zeichnungen, Wäschekörben, Magnettonbändern, Plüschtieren, Schreibmaschinen, gewidmeten Gedichten und Bildwerken anderer Künstler:innen bildete das Fundament für ihr einzigartiges Œuvre. Nahezu alles wusste die Autorin darin zu poetisieren, in Literatur zu verwandeln.

Sinnbild für Mayröckers Schreibweise und die Offenheit ihrer Arbeit für Einflüsse aus der bildenden Kunst, der Musik, der Philosophie und der internationalen Poesie ist ein alter Flügel in ihrer Schreibwerkstatt, noch aus dem Besitz ihrer Eltern, der im Lauf der Jahre von Zettelbergen und Papierablagerungen so überwuchert wurde, dass sein Standort nur mehr zu erahnen war.

Ohne die physischen Dinge, die materiellen Schreib- und Lebensspuren, die in Mayröckers Zetteluniversum überdauerten, zum Teil von Staubschichten bedeckt wie Erze in einem Bergwerk, ist kein angemessenes Verständnis ihres Werkes, seiner Produktionsbedingungen und künstlerischen Verfahren (etwa der Collage und Montage) zu gewinnen.

Ingeborg Bachmann.
APA-IMAGES / IMAGNO

Mayröckers Schreibmaschine

Mayröcker verfasste ihre Texte mit der Hand und an der Schreibmaschine, in ihrer Werkstatt als einem Raum visueller, taktiler und akustischer Phänomene – eine Arbeitsweise, die auf völlig anderen künstlerischen Produktionsvoraussetzungen basiert als etwa das digitale Schreiben am Computerschirm. "[M]ein ganzes bisheriges Leben scheint eine palimpsestische Form angenommen zu haben, muß ich das weiter ausführen?" (Lection, Suhrkamp 1994), notierte Mayröcker einmal, den Überschreibungen und Schichtungen Rechnung tragend, die ihr Leben, ihre Lektüren und ihr Werk bestimmten.

Ablagerungen und (Erinnerungs-)Schichten ganz anderer Art legte jene Literatur frei, die einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich leistete. Gegen das Vergessen, Verschweigen und Verdrängen wandten und wenden sich Autor:innen wie Erich Fried, Erich Hackl, Maja Haderlap, Ruth Klüger oder Werner Kofler in ganz unterschiedlichen Texten, Gedichten, Romanen, filmischen und essayistischen Beiträgen.

Ilse Aichinger, Elfriede Gerstl und Robert Schindel überlebten die NS-Zeit als Kinder und Jugendliche in Wien. In ihren späten Erinnerungen an die Eindrücke jener Jahre, den "Blitzlichtern auf ein Leben", berichtet Aichinger von der Deportation und Ermordung ihrer Verwandten im Vernichtungslager Minsk. Der Schatten, den diese ungeheuerliche Tatsache auf das Leben der Überlebenden wirft, ist auch Jahrzehnte später nicht verschwunden, er stellt die eigene Existenz nachhaltig infrage: "Wir, jedenfalls meine Mutter und ich, kamen davon. Aber kamen wir davon? Ich weiß es bis heute nicht." (Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. S. Fischer 2003)

Und jetzt? Alles gesagt?

Alles ist doch gesagt? Nichts ist gesagt. Nichts ist zu sagen. Und wenn auch alles gesagt wäre – umso besser: Sag’s auf deine Weise. Deine Weise – so du eine hast – wird gebraucht. Peter Handke

Die österreichische Literatur ist – aufgrund ihrer Geschichte, aufgrund des Selbstverständnisses der Autor:innen, die ihr zugerechnet werden können und zu denen auch viele in der NS-Zeit aus Österreich Vertriebene zählen – eine genuin europäische Literatur. Mehr denn je entsteht sie heute im Bewusstsein historischer Verwerfungen und im Hallraum einer transnationalen Weltliteratur.

Zum (Selbst-)Bild Österreichs gehört das historische Erbe der Habsburger Monarchie, des mehrsprachigen Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn. Mit Nostalgie, Idealisierung und jenem "Entlastungsmythos", der im Rückgriff auf die einstige imperiale Größe Österreichs bis heute wirksam ist, setzt sich Marlene Streeruwitz in ihrer Collage Mein Österreich auseinander.

Marlene Steeruwitz.

Streeruwitz’ Sisi

Aus Anlass der Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai 2004 lud die dänische Zeitung Politiken Streeruwitz ein, an einer "europäischen Ausstellung" im Zeitungsformat teilzunehmen. Sie sollte für Österreich Charakteristisches nennen, das Aufschluss über die Kultur und Mentalität des Landes gibt. In ihrem Beitrag, der in der Zeitung abgedruckt wurde und den die Autorin später für ihre Text-Bild-Collage verwendete, heißt es unter anderem lapidar: "[...] es ist halt sehr lange sehr schwierig, ein Imperium verloren zu haben." Und über die von Romy Schneider verkörperte Kaiserin Elisabeth setzt Streeruwitz hinzu: "Seit dem 1. Sissi Film von 1955 ist die Kaiserin das nostalgische Rollenmodell für die postpubertierende Österreicherin und Entlastungsmythos nach dem 2. Weltkrieg und Holocaust. Herz. Gemüt. Schöne Schlösser und Landschaften. Biedermeier. Damals. Da war alles schöner. Und Österreich hatte Bedeutung."

Es ist nicht zuletzt die Literatur, die ein Korrektiv zu solchen, vor allem von Tourismus- und Unterhaltungsindustrie, aber auch rückwärtsgewandten politischen Kräften forcierten Nostalgiebildern darstellt.

Die "Größe" einer "kleinen" Literatur, der Literatur eines kleinen, vormals großen Landes, ist im Wort "ALLES" ironisch gefasst. Dass Selbstüber- und -unterschätzung, exaltierter Größenwahn und höfische Bescheidenheitsgesten hier (wie andernorts) oft in auffälliger Nähe zueinander existieren, das thematisiert die österreichische Literatur mit Sprachwitz und Ironie.

Peter Handke.

Artmann und Rühm

Auf diese Literatur gerade jetzt, aus Sicht des Jahres 2023, und durch ein Zeitfenster der letzten 50 Jahre zu blicken ist mehrfach angezeigt, steht das Jahr 1973 doch für einen Generationenwechsel innerhalb der österreichischen Literatur: In dieses Jahr datiert die Gründung der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV), jener Schriftsteller:innen-Organisation, die sich – mit Gründungsmitgliedern von H. C. Artmann über Gerhard Rühm bis Friederike Mayröcker – in Abgrenzung zum konservativen österreichischen PEN-Club konstituiert. 1973 stirbt mit Ingeborg Bachmann eine der wichtigsten Vertreter:innen der österreichischen Nachkriegsliteratur; im selben Jahr erhält Peter Handke den Georg-Büchner-Preis, seine Preisrede ist Bachmanns Andenken zugeeignet.

Nicht unberührt bleibt die Literatur jener Jahre von den sozialen Umbrüchen und Erneuerungen, für die die 1970er-Jahre stehen, von den sich ändernden gesellschaftlichen Rollenbildern, von einem Aufbegehren gegen Verkrustung und Stillstand, das sich in ästhetischer Hinsicht sowohl in experimentellen als auch realistischen Schreibweisen manifestiert.

Christoph Ransmayr.

Jandls "nationalliteratur"

Mit Humor und im Dialekt thematisiert Ernst Jandl in seinem Gedicht "nationalliteratur" die Tatsache, dass Österreich von seinem großen Nachbarn Deutschland zwar keine Sprachgrenze trennt, man hüben wie drüben aber nicht immer dieselbe Sprache spricht: "owa eia dichterschbrooch is do daitsch / es heazzas jo – oder ned?" (Ernst Jandl: stanzen. Luchterhand 1992) Es sind gerade die akustischen Qualitäten, auch der geschriebenen Sprache, die die österreichische Literatur auszeichnen, der Umstand, dass das gesprochene Wort noch im verschriftlichten Text anklingt.

Dies hat eine lange Tradition: vom barocken Prediger, genialen Sprachartisten, aber auch Juden- und Frauenhasser Abraham a Sancta Clara und seinem Leitspruch "Dem Volk aufs Maul schauen" über die Autoren des Altwiener Volkstheaters im 18. Jahrhundert, die sich mit ihrer plebejischen Sprachlust an den Redeweisen der Vorstädte orientierten, über Johann Nestroy, den begnadeten Auftrittskünstler und Satiriker des 19. Jahrhunderts, bis hin zu Karl Kraus, den Nestroy-Bewunderer und ebenso begnadeten Satiriker und Vortragskünstler, dessen Stimme eine ganze Generation in ihren Bann zog.

Das Begleitbuch, aus dem dieser leicht gekürzte Vorabdruck stammt, erscheint im Residenz-Verlag.
Foto: Verlag

Die "Wiener Gruppe"

Mit ihren Performances und Lautgedichten schlossen die Autoren der bereits erwähnten "Wiener Gruppe" – Artmann, Rühm, Wiener, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer – ab den 1950er-Jahren an diese Tradition an. Stimme, Gesang, Töne und Musik sind in Gert Jonkes Texten fast buchstäblich zu vernehmen. Christoph Ransmayr vertraut wie wenige andere Autor:innen auf den Rhythmus und Atem der mündlichen Erzählung. Sie wirkt in den geschriebenen Geschichten nach. Die kritisch-utopische Funktion der Erzählung kann sich dann entfalten, wenn die "Vorstellungskraft" nicht nur der Erzähler:innen, sondern auch der Zuhörer:innen und Leser:innen als Gegengift gegen die "Dummheit der Barbarei" zu wirken beginnt. (Ransmayr: Geständnisse eines Touristen. S. Fischer 2004)

"ALLES" über die österreichische Literatur der letzten 50 Jahre zu sagen ist unmöglich. Eine Reihe von Autor:innen und Werken fehlt in diesem Beitrag und in der Ausstellung, nichts sagt dies über einen immer strittigen Kanon, über immer strittige Werturteile aus.

Der Notwendigkeit einer Auswahl, der Unmöglichkeit, "alles" zu sagen und zu zeigen, stellt sich die Ausstellung mit ausgewählten Positionen, die sich zu einem vielstimmigen Chor zusammenfinden: "... ich sage ,verzage nicht!‘ und sehe aufs Wintermeer hinaus, es geht um NICHTS und es geht um ALLES, vielleicht polyphon, es geht um Sensationen = ich meine Empfindungen ..." (Friederike Mayröcker). (Kerstin Putz, Berhard Fetz, 23.4.2023)

Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs, des Literatur- sowie des Esperantomuseums der Österreichischen Nationalbibliothek.
Foto: Privat
Kerstin Putz ist Germanistin und Ausstellungskuratorin am Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek.
Foto: Patrick S. Weber