Die Flucht in Rauschzustände treibt Prossers Figuren an.

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Verschneite Berggipfel sind derzeit trotz Klimaerwärmung kein ungewöhnlicher Anblick. Der aufwühlende Roman des gebürtigen Tiroler Schriftstellers Robert Prosser Verschwinden in Lawinen passt zu diesem launischen Frühling, denn auch zwischen den Buchdeckeln gibt es unberechenbares Wetter, "ein zorniges Grau", das sich hinter den Berggipfeln hervorwölbt. Gleich zu Beginn wird man Zeuge einer Naturkatastrophe, einer gewaltigen Lawine, "die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen".

Das Inferno aus Schnee und Zerstörung lässt sich bereits im ersten Kapitel dieses Romans erahnen. Rettungshubschrauber kreisen zwischen zwei Gipfeln auf der Suche nach Verschütteten, während die Hauptfigur Xaver, Liftwart, Metzger und ehemaliger Koch, über ein Buch zur Schauspielkunst nachdenkt. Innerlich bereitet er sich auf seine gelegentlichen Auftritte im Dorftheater vor. Keineswegs ein einfaches Unterfangen, denn "wie früher das Kochen verlangten diese kitschigen Schwänke eine außerordentliche Sorgfalt. Manchmal überforderten sie ihn mit unerwarteten Einsichten."

Euphorie und Verzweiflung

Bevor man in Versuchung gerät, in Anbetracht des herannahenden Unglücks die Lektüre aufzugeben, wird man schon auf den ersten Seiten von Prossers sensibler Tonlage und seinem spannungsvollen Erzählstil eingefangen. Man will der Hauptfigur Xaver folgen, seine Gedanken lesen, ihn bei seinem Einsatz mit den Bergrettern am Lawinenkegel begleiten, die Hoffnung auf ein Überleben des jungen Noah nicht aufgeben. Der Bursche hatte sich gemeinsam mit der sechzehnjährigen Tina – sie ist die Tochter von Xavers Schwester Marlen – abseits der Piste in den "Powder" gewagt, um "in das Funkeln der aufstäubenden Kristalle" einzutauchen. Tina entkommt der Lawine, muss jedoch auf die Intensivstation, Noah bleibt verschollen. "Vielleicht war es längst zu spät, und man hing noch der Illusion nach, ihn lebend zu finden." Diese Sorge beschäftigt Xaver unentwegt. Resignation und Hoffnung, das sind die widersprüchlichen Kräfte, die das Spannungsverhältnis dieses Romans ausmachen, der sich am Mark des Lebens abarbeitet.

Robert Prosser schont seine Figuren nicht, offenbart ihre Wunden mit einer präzisen, poetischen Sprache. Obwohl er sie in Abgründe stürzen lässt, ist er immer auf ihre Integrität bedacht und kämpft mit literarischen Mitteln und unerschütterlicher Zuversicht gegen das urbane Vorurteil an, dass durch die Härte des ländlichen Lebens jede Feinfühligkeit im Keim erstickt würde.

Schattenseiten des Wintertourismus

Prosser lässt bei Xaver alte Wunden aufbrechen, die in Form von Erinnerungsfragmenten in Erscheinung treten. Xavers Trauma: Er versuchte schon einmal, jemanden in den Bergen zu finden, seinen über achtzigjährigen Großvater Konrad. Die Hoffnung auf einen Platz in der Gesellschaft, aber auch die Flucht in Rauschzustände aller Art treiben Prossers Figuren an. Xavers Mutter Anna, die eine Pension führt, zerbricht daran, mit stets lächelnder Miene wohlsituierte Touristen zu beherbergen. Sie ist zerrissen, "zwischen dem Wunsch, über gleich viel Geld und dasselbe Auftreten zu verfügen, und dem Eingeständnis, nur eine Bedienstete zu sein."

Die literarische Auseinandersetzung mit dem Tiroler Tourismus ist nicht neu. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Piefke-Saga von Felix Mitterer. Robert Prosser, 1983 in Alpbach geboren, gehört zu einer jüngeren Generation von Literaten, die sich allerdings nicht auf einer satirischen Ebene mit diesem Thema befassen. Ohne Umschweife weist er auf die Schattenseiten des Wintertourismus hin.

Robert Prosser, "Verschwinden in Lawinen". € 23,– / 192 Seiten. Jung und Jung, Salzburg 2023.
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Lebenskonzept des Einsiedlers

Besonders gelungen ist Prosser eine der Wirklichkeit gänzlich entrückte Gestalt: Es handelt sich um den Einsiedler Mathoi, der abgeschieden im Hochgebirge lebt. In Anbetracht der Menschenmassen, die die Bergwelt zu jeder Jahreszeit bevölkern, erscheint das Lebenskonzept des Einsiedlers schier unrealistisch. Gleichzeitig lässt sich daraus aber eine interessante Fragestellung ableiten: Was geschähe, wenn die Bergwelt wieder eine unberührte Wildnis wäre? Könnte diese lebensfeindliche Natur dem Menschen trotzdem als archaisches Refugium abseits gesellschaftlicher Zwänge dienen? Wo liegen die Grenzen der menschlichen Existenz? Diese philosophischen Fragen tauchen unweigerlich bei der Lektüre dieses Romans auf, der sich bis zum letzten Satz durch sprachliche Eleganz und Einfühlsamkeit auszeichnet. (Gerlinde Tamerl, 22.4.2023)