Wolfgang Koeppen zum Gedenken

(Zukunft. Ein Gerichtssaal. Angeklagter, ein Universitätsprofessor für jüngere Geschichte, Mitte sechzig. Untersuchungsrichterin, ca. vierzig. Im Hintergrund durchgehend das Surren einer Klimaanlage und, durch die dennoch geöffneten Fenster, ein Geruch von verbrannter Erde.)

RICHTERIN: Angeklagter, Sie werden beschuldigt, in einer in der Zeitschrift für Geschichtsforschung erschienenen Abhandlung mit dem Titel Paradieskritik in der Studierendenbewegung der 1960er Jahre statt der Begriffe "Paradies" und "Heilsbringende" mehrfach die längst als unzutreffend und diskriminierend erkannten Termini "Kapitalismus" und "Kapitalisten", ja an manchen Stellen sogar die indexierten Begriffe "Ausbeuter" und "Schweinesystem" verwendet und dadurch bei mehreren Studierenden Traumata ausgelöst zu haben. Was haben Sie dazu zu sagen?

ANGEKLAGTER: Euer Ehren, ich habe im Sinne der wissenschaftlichen Genauigkeit dort, wo aus historischem Textmaterial zitiert wurde, die damalige Wortwahl unverändert gelassen, habe aber im Vorwort und im Anmerkungsteil stets darauf hingewiesen, dass dies keinesfalls –

RICHTERIN: Das ist nicht von Interesse. Haben Sie diese Begriffe in Ihrem Text verwendet oder nicht?

ANGEKLAGTER: Wie gesagt, ich habe –

RICHTERIN: Ja oder nein?

ANGEKLAGTER: Ja.

RICHTERIN: Danke. Abführen.

(Der Angeklagte wird abgeführt. Die Richterin, allein, blättert in Papieren. Das Surren der Klimaanlage. In der Ferne ein Geräusch wie von schwerem Artilleriebeschuss. Der Geruch von verbrannter Erde stärker.
Vorhang)
(Antonio Fian, 21.4.2023)