"Das Gesetz wird als Waffe gegen die Journalistinnen und Journalisten eingesetzt und missbraucht": Rana Ayyub beim Journalismusfestival in Perugia.

Foto: Stefanie Schiener

Perugia – Sobald Rana Ayyub, eine unabhängige indische Journalistin, einen Tweet absetzt, erhält sie innerhalb von 14 Sekunden Hasskommentare darauf. Binnen zwei Minuten erreichen die konzertierten Attacken ihren Höhepunkt. Die Daten liefert ein neues Analysetool für Cyberattacken auf Journalistinnen, das gerade beim Internationalen Journalismusfestival in Perugia vorgestellt wurde. Im Interview schildert die für die "Washington Post" tätige Freelancerin, wie sie diese Angriffe erlebt.

In Indien beschäftigt sich Rana Ayyub mit globalen Themen, der indischen Regierung, Terrorismus, Islamophobie und Gewalt gegenüber Minderheiten. Aufgrund dieser Arbeit wird sie immer wieder vom indischen Staat und seinen Akteuren verfolgt und an ihrer Arbeit gehindert. Mittels Drohungen und Verfolgung, sowohl online aber auch im realen Leben wird versucht die Journalistin einzuschüchtern: "Journalistinnen und Journalisten werden als neue Feinde des Staates dargestellt und werden zum Schweigen gebracht, weil sie die Wahrheit aussprechen. Noch nie während meiner Karriere habe ich erlebt, dass Journalistinnen und Journalisten so brutal angegriffen werden", sagte Rana Ayyub im Interview.

Eine Studie des International Centre of Journalists (ICFJ) analysierte Rana Ayyubs Twitter-Interaktionen und fand bestätigt, dass die Online-Gewalt, die gegen sie gerichtet wird, koordiniert ist. Alle 14 Sekunden werde sie angegriffen, sagt sie im Interview für den STANDARD.

"Online-Belästigung führt zu Offline-Gewalt"

DER STANDARD

Frage: Wie werden Journalistinnen und Journalisten in Indien eingeschüchtert?

Ayyub: Im Moment laufen Verfahren gegen mich. Mein letztes Verfahren ist eine Verleumdungsklage wegen eines Artikels, den ich vor 15 Jahren geschrieben habe. Die Anschuldigung lautet: Ich sei eine praktizierende Muslimin und daher in meiner Arbeit voreingenommen. Wie kann ich so einen Fall anfechten? Mein Kollege bei der "Washington Post", Wladimir Kara Mursa, wurde zuletzt zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hat. Gibt es dafür ein Gesetz? Nein. Das Gesetz wird als Waffe gegen die Journalistinnen und Journalisten eingesetzt und missbraucht. Morgen könnte man uns einfach festnehmen, weil wir existieren und atmen. Da gibt es kein Gesetz?

Frage: Wie gehen Sie damit um?

Ayyub: Du kämpfst weiter. Und du weißt, dass du mit diesen Anschuldigungen bombardiert wirst, um dich fertigzumachen. Du weißt, dass sie einen Plan haben, und du brauchst einen Gegenplan. Und der einzige Gegenplan ist, dass du weiterhin Journalismus machst. Das ist ihre Strategie: Sie sorgen dafür, dass du ständig gegen diese Anklagen ankämpfen musst, damit du keine Zeit für deine Arbeit hast. So versuchen sie, uns zu erschöpfen.

Frage: Was ist der Unterschied zwischen Hass im Netz und Hass im realen Leben?

Ayyub: Es gibt keinen Unterschied zwischen Online und Offline-Gewalt. Online-Belästigung führt zu Offline-Gewalt. Meine Kollegin Gauri Lankesh, mit der ich einen Tag vor ihrer Ermordung gesprochen habe, meinte immer, das wären alle nur ungefährliche Trolle. Aber sie wurde am Tag darauf ermordet. Ich bekomme explizite Mord- und Vergewaltigungsdrohungen von Menschen, die meine Adresse kennen. Und obwohl ich sie bei der Polizei anzeige, passiert nichts und sie machen weiter. Das ist eine gefährliche Situation.

Frage: Welchen Einfluss hat der Hass im Netz auf Ihr Privatleben?

Ayyub: Online-Hass trifft einen mehr als alles andere. Als mein Name letztes Jahr wegen Geldwäsche-Vorwürfen gegen mich auf Twitter getrendet hat, habe ich mein Handy abgedreht. Ich konnte nicht einmal meine Zähne putzen. Ich habe mit meinem Neffen Karten gespielt und so getan, als ob die Welt da draußen nicht existiert. Ich hatte Suizidgedanken, habe Medikamente gegen meine Angstzustände genommen und mich mit Schlafmittel betäubt.

Frage: Wer kann und sollte etwas gegen diesen Hass im Netz unternehmen?

Ayyub: Jeder, die Zivilgesellschaft. Regierungen werden wenig tun. Sie haben das Gefühl, dass sie einander unterstützen müssen. Die werden nichts tun. Wir, die Zivilgesellschaft und journalistische Organisationen müssen den Rücken von Journalistinnen und Journalisten stärken. Vor allem unabhängige Journalistinnen und Journalisten bekommen oft keine Unterstützung. Uns fehlt hier eine internationale globale Solidarität. Ich hoffe, dass sich uns mehr Menschen anschließen und diesen Kampf mit uns kämpfen. (Corinna Crestani, Elisabeth Hess, Stefanie Schiener, 23.4.2023)