Gäbe es öffentlich-rechtliche Medien noch nicht, müsste man sie erfinden, sagt der Journalist und Medienwissenschafter Leonard Novy. Aber nicht so, wie sie heute konzipiert sind.

Foto: Nin Solis

Wien – Öffentliche-rechtliche Medien wie der ORF sind seit jeher Zankapfel der Politik. Es geht um Macht und Einfluss. Und sie stehen im Spannungsfeld mit den Privaten, die mit ihnen um Aufmerksamkeit und Werbegelder konkurrieren. Leonard Novy ist Journalist und Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik mit Sitz in Berlin und Köln. Der deutsche Medienwissenschafter hielt vergangene Woche die Keynote bei der Medienenquete der Neos. Im Interview mit dem STANDARD präzisiert Novy seine Vorschläge, wie öffentlich-rechtliche Medien der Zukunft aussehen könnten und wie sie im Zusammenspiel mit den Privaten konzipiert sein sollen.

STANDARD: Kritikerinnen und Kritiker meinen, dass es bei dem kommunikativen Überangebot und der Informationsflut keine öffentlich-rechtlichen Medien mehr braucht und sie obsolet seien. Was meinen Sie?

Novy: Die Legitimation öffentlich-rechtlicher Medien ist in der heutigen Zeit, wo analoge "Frequenzknappheit" kein Thema mehr ist, tatsächlich kein Selbstläufer mehr. Und das Vorhandensein ihrer stattlichen Apparate kein Selbstzweck. Wenn Sie mich aber fragen, braucht es heute noch öffentlich-rechtlichen Medien, dann sage ich: Ja. Und viel spricht dafür, dass die Bedeutung der dahinterstehenden Grundidee für die Demokratie eher zunimmt. In Anbetracht von globalen Krisen und hyperkommerziellen Plattformen, deren Algorithmen für das Geschäftsmodell optimiert sind, nicht für das Gemeinwohl. Aber klar ist auch: Dieser Daseinszweck ist kein Freifahrtschein. Es braucht Reformen, gewissermaßen bei laufendem Motor. Bei Auftrag, Aufstellung, aber auch Governance.

STANDARD: Ist es nur eine radikalisierte Minderheit, die etwa bei den Corona-Demos gegen öffentlich-rechtliche Medien wettert und sie diffamiert, oder ist die Akzeptanz von Rundfunkeinrichtungen wie ARD und ZDF oder ORF in Österreich tatsächlich im Sinkflug?

Novy: Das Vertrauen in die Berichterstattung ist, zumindest in Deutschland, auf schwankendem Niveau nach wie vor gegeben – trotz jener radikalisierten Minderheit, die ihrer Kritik an "Staatsfunk" und "Zwangsgebühren" seit Jahren lautstark und effektiv Ausdruck verleiht. Aber die gesellschaftliche Akzeptanz und die politische Unterstützung für die Öffentlich-Rechtlichen als Institution und mithin deren Beitragsfinanzierung schwinden. Das sehen wir in verschiedenen Ländern. Schauen Sie nach Frankreich, wo die Rundfunkabgabe abgeschafft wurde, oder Großbritannien.

"Das war natürlich Wasser auf die Mühlen jener, die seit jeher fordern, ARD, ZDF und Deutschlandradio kleinzusparen, zu privatisieren oder gleich ganz abzuschaffen."

STANDARD: In Ihrer Keynote bei der Medienenquete der Neos im Parlament haben Sie vergangene Woche gesagt, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner schlimmsten Krise steckt. Warum?

Novy: Ich habe das mit Bezug auf Deutschland formuliert, wo es letztes Jahr einen Skandal um Finanzen, Compliance und Kontrollversagen beim Rundfunk Berlin Brandenburg – RBB– gegeben hat, der zum Rücktritt der Intendantin und ARD-Vorsitzenden geführt hat. Diese Geschichte wurde rasch zu einer Art perfektem Sturm, nicht nur für RBB, sondern für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt. Das war natürlich Wasser auf die Mühlen jener, die seit jeher fordern, ARD, ZDF und Deutschlandradio kleinzusparen, zu privatisieren oder gleich ganz abzuschaffen. Und entsprechend wurde das Ganze auch politisch instrumentalisiert. Schnell wurde, auch in den unbeholfenen Reaktionen der Sender, aber hier klar, dass es um mehr ging als um Filz und Kontrollversagen. Es offenbarte sich etwas Grundsätzlicheres: eine System-, Identitäts- und Akzeptanzkrise.

STANDARD: Die sich wie äußert?

Novy: Anzeichen dafür sehe ich, unter anderen Bedingungen, auch in Österreich. Zwischen der Demografie, dem technologischen Wandel und politischen Angriffen tun sich die Öffentlich-Rechtlichen in beiden Ländern schwer damit, diese Frage zu beantworten. Das System befindet sich an einer kritischen Weggabelung. Viele der Probleme rühren aus einer grundlegenden Unsicherheit darüber, wo der Platz der Öffentlich-Rechtlichen in einer sich rasant verändernden Beziehungswelt zwischen Medien und Gesellschaft sein soll. Mit anderen Worten: Welche Öffentlich-Rechtlichen wollen wir eigentlich?

"Da wurden lange falsche Prioritäten, falsche Anreize gesetzt, vor allem die Fetischisierung der Quote führte zu großem Sicherheitsdenken."

STANDARD: Müsste man den gesetzlichen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nachschärfen? Der ORF liefert etwa mit dem Radiosender Ö3 oder teilweise ORF 1 ein Programm, das auch Private leisten könnten. Stichwort Unterhaltung.

Novy: Das ist aus meiner Sicht weniger eine Frage des Auftrags, sondern der Art und Weise, wie er realisiert wird. Es gibt sowohl in Österreich als auch in Deutschland – schon lange – einen Trend zur "Selbstkommerzialisierung", so hat es der deutsche Journalist und Hochschullehrer Volker Lilienthal schon vor Jahren formuliert, also eine Orientierung an Inhalten und Darstellungsformen der Privaten. Da wurden lange falsche Prioritäten, falsche Anreize gesetzt, vor allem die Fetischisierung der Quote führte zu großem Sicherheitsdenken. Das, was den Öffentlich-Rechtlichen eigentlich auszeichnen sollte, fällt dann hinten runter.

STANDARD: Was ist das?

Novy: Ich komme gerade von der Fernsehmesse in Cannes. Die Sendervertreter, die dort bei Cocktails an der Croisette über mangelnde Qualität und Austauschbarkeit der Formate klagen, sind häufig diejenigen, die im Zweifelsfall nicht den Mut dafür aufbringen, entsprechenden Content zu beauftragen oder prominent zu programmieren. Dokumentarfilmer wissen, was ich meine. Andererseits wäre es ein kategoriales Missverständnis, die Öffentlich-Rechtlichen nur als Orte der Information, Bildung und Hochkultur zu begreifen, gewissermaßen als Ausputzer oder Lückenfüller, die nur jene Aufgaben übernehmen, die von den Privaten nicht erfolgreich abgedeckt werden. Öffentlich-Rechtliche werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch Sport und Unterhaltung liefern, sodass sie viele Menschen erreichen.

STANDARD: In Österreich ersetzt eine Haushaltsabgabe ab 2024 die GIS-Gebühr. Warum sollen auch jene für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie den ORF zahlen, die ihn nicht nutzen?

Novy: Die Antwort darauf ist einerseits einfach, andererseits sehr kompliziert: "Weil ihr davon profitiert. Selbst wenn ihr ihn nicht nutzt." Das lässt sich nicht leicht vermitteln, weil der- oder diejenige den Unterschied ja erst merken würde, wenn es die Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr gäbe. Wir haben uns so sehr an die Öffentlich-Rechtlichen gewohnt – für die einen sind sie wie liebgewonnene Möbelstücke in ihren Wohnzimmern. Für manche auch wie das olle Sofa, das man nicht mehr sehen kann, an dem man sich fast buchstäblich stößt, über dessen Stil man sich mit der Familie streitet. Geschmackssache. Was man darüber vergisst: Das Vorhandensein solidarisch finanzierter, dem Gemeinwohl dienender Medien ist keine Selbstverständlichkeit. Dafür muss man eben nicht in die Geschichtsbücher schauen. Ein Blick nach Ungarn reicht.

"Die Öffentlich-Rechtlichen sind, gemeinsam mit den privaten und gemeinnützigen Medienanbietern, ein zentraler Bestandteil unserer Medienordnung und als solche wichtig für das Gelingen der Demokratie."

STANDARD: Die Gefahr der Aushöhlung besteht?

Novy: Ja. Man kann trefflich über Theorie und Wirklichkeit streiten, darüber, wo der ORF seinen Ansprüchen nicht gerecht wird, falsche Prioritäten beim Programm oder bei Einsparmaßnahmen trifft – und was er anders machen sollte. Aber die Öffentlich-Rechtlichen sind, gemeinsam mit den privaten und gemeinnützigen Medienanbietern, ein zentraler Bestandteil unserer Medienordnung und als solche wichtig für das Gelingen der Demokratie. Das ist theoretisch wie empirisch gut erforscht. In den USA, nie mit einem starken öffentlichen-rechtlichen Rundfunk ausgestattet, lässt sich beobachten, wohin Nachrichtenwüsten und die Fragmentierung in unterschiedliche Kommunikationswelten, die sich kaum mehr etwas zu sagen haben, führen. Was es bedeutet, wenn einer Gesellschaft die gemeinsame Wissensbasis abhandenkommt – und vor allem die Fähigkeit, diese zu verhandeln.

STANDARD: Das Durchschnittsalter der ARD- und ZDF-Seherinnen und -Seher liegt linear bei rund 65 Jahren. Ist der Kampf gegen die Demografie schon verloren? Stirbt das Publikum aus?

Novy: Das Durchschnittsalter der Zuschauerinnen und Zuschauer im linearen TV steigt unaufhörlich. Für die Sender bedeutet das einen Spagat: Sie müssen weiter die älteren, ans klassische TV gewöhnten Teile der Bevölkerung versorgen, wozu – Stichwort Unterhaltung – übrigens auch die Schlagershows mit Florian Silbereisen gehören, an denen sich zwar das Feuilleton abarbeitet, die nun aber bei den Privaten nicht zu finden sind. Und gleichzeitig müssen sie umschichten und die Jungen digital erreichen. Das ist die strategische Herausforderung.

Ich habe das an anderer Stelle mit einem Erdrutsch verglichen. Wenn so eine tonnenschwere Stein- und Erdlawine ins Tal hinunterstürzt, passiert das meist plötzlich und rasend schnell. Die Erosion der Erdschichten, die solche Ereignisse erst möglich macht, hat jedoch viele, langsam und unmerklich wirkende Ursachen. So ist es auch für die Öffentlich-Rechtlichen. Um im Bild zu bleiben: Das Fundament bröselt schon lange vor sich hin – die Medienwelt, die Gesellschaft, in der sich die Sender bewegen, haben sich längst verändert. Darauf muss man sich einstellen, sonst geraten die Dinge ins Rutschen.

STANDARD: Sie haben gemeint, dass man die öffentlich-rechtlichen Medien erfinden müsste, wenn es sie nicht schon gäbe, aber anders als zur Zeit ihrer Gründung. Wie?

Novy: Wir müssen uns fragen: Was brauchen wir heute und in Zukunft, um die publizistische Versorgung, demokratische Meinungsbildung und demokratische Selbstverständigung unter sich verändernden technologischen und gesellschaftlichen Bedingungen aufrechtzuerhalten? Und dann wird man feststellen, dass die Finanzierung eines einzigen, an linear-vertikale Technologien gekoppelten Institutionentyps, der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt, die nur selbst produziert und beauftragt, nicht das Ende der Geschichte sein muss. Was es heute braucht, sind gemeinwohlorientierte, von wirtschaftlichen und politischen Interessen wirklich freie, solidarisch finanzierte Informationsräume. Als Gegenmodell, Gegenmittel – in jedem Fall als Ergänzung – zu den Logiken und Effekten kommerzieller Plattformen.

"Es geht nicht mehr nur darum, Inhalte zu produzieren. Sondern darum, im kommunikativen Überfluss unserer Zeit einen Mehrwert zu schaffen. Durch Filterung, Schaffung informationeller Sicherheit, Orientierung und, vor allem, die Ermöglichung des gesellschaftlichen Gesprächs."

STANDARD: Wie etwa Twitter und Co?

Novy: Dass ein Oligarch wie Elon Musk nach der Twitter-Übernahme im Stile eines James-Bond-Bösewichts nach Tageslaune Regeln für den öffentlichen Diskurs dekretiert, ist ja nur die sehr spektakuläre Manifestation eines traurigen Allgemeinzustands – algorithmischer Willkür, von der wir Nutzer sonst nichts mitbekommen. Für journalistische Medien bedeutet das: Es geht nicht mehr nur darum, Inhalte zu produzieren. Sondern darum, im kommunikativen Überfluss unserer Zeit einen Mehrwert zu schaffen. Durch Filterung, Schaffung informationeller Sicherheit, Orientierung und, vor allem, die Ermöglichung des gesellschaftlichen Gesprächs. Also selbst eine Plattform, nicht nur technisch, zu sein. Hier sind wiederum nicht nur Journalistinnen und Journalisten gefragt. Es braucht Entwickler, Datenexperten und praxisnahe Forschung, um Schritt zu halten mit der Technik, die sich ja – Stichwort ChatGPT – rasant weiterentwickelt. Die Belgier sind da mit der VRT, der Flämischen Hör- und Fernsehfunkorganisation, zum Beispiel sehr innovativ aufgestellt.

STANDARD: Der tatsächliche gesellschaftliche Nutzen des Journalismus als öffentliches Gut ist höher als die private Nachfrage, sagen Sie. Aber jetzt kippt das Verhältnis immer mehr, und die Querfinanzierungen brechen weg. Wie schlimm ist es?

Novy: Man kann argumentieren: Der tatsächliche gesellschaftliche Nutzen des Journalismus als öffentliches Gut war immer höher als die private Nachfrage. Das war immer so, aber so lange kein Problem, wie der Zugang zur Öffentlichkeit technisch begrenzt war und sich mit dem Quasimonopol auf Werbung, Immobilien- und Stellenanzeigen quasi Geld drucken ließ. Diese Zeiten – und die enormen Renditen – sind in der Ökonomie des Internets vorbei. Die Folgen sind bekannt: Wir haben eine enorme Nachfrage nach journalistischen Informationen, gleichzeitig aber erleben wir die schwere Krise jener Institutionen, die ihn produzieren, weil sich die Reichweiten nicht mehr monetarisieren lassen. Das alles bei rasant steigenden Kosten für Papier, Energie, Zustellung und so weiter. Obwohl es einigen Verlagen inzwischen besser gelingt, ihre Inhalte als Paid-Content-Angebote zu vermarkten, wird sich eine Medienlandschaft in dem von uns gewohntem Umfang dauerhaft so nicht finanzieren lassen.

STANDARD: In Österreich gibt es Sparprogramme beim "Kurier" und der "Kleinen Zeitung", auch die "Wiener Zeitung" muss aufgrund des neuen Gesetzes Federn lassen und wird Teile der Redaktion kündigen. Wohin führt diese Entwicklung?

Novy: In der Tat, das ist schon heute spürbar, auch auf dem kleinen, schon jetzt hochkonzentrierten österreichischen Markt, der ja hinsichtlich direkter und indirekter Presseförderung international ein Sonderfall ist. Wenn sich das fortsetzt, werden viele etablierte Medien, von denen wir uns das heute nicht vorstellen können, nicht überleben.

"Eine neue Form der digitalen Spaltung zwischen denjenigen, die Zugang zu hochwertigen Informationen haben, und denjenigen, die systematisch ausgeschlossen oder nicht mehr dafür erreichbar sind, zeichnet sich ab."

STANDARD: Seit der Jahrtausendwende sind in Österreich laut Journalismusreport des Medienhauses Wien ein Viertel der journalistischen Arbeitsplätze abhandengekommen. Was bedeutet das für die Gesellschaft?

Novy: Irgendwann erreicht man dann einen Punkt, wo die umfassende, verlässliche und vielfältige publizistische Versorgung der Gesellschaft in ihrer Breite gefährdet ist. Denn es hilft nicht, dass der Journalismus aus aller Welt in vielerlei Hinsicht heute so gut ist wie zu keinem Zeitpunkt seiner jahrhundertealten Geschichte. "New York Times", "Guardian", "Zeit" usw., auf die wir per Fingertipp zugreifen können – das sind Erfolgsgeschichten an der Spitze des Segments und für die Spitze der Gesellschaft. Eine neue Form der digitalen Spaltung zwischen denjenigen, die Zugang zu hochwertigen Informationen haben, und denjenigen, die systematisch ausgeschlossen oder nicht mehr dafür erreichbar sind, zeichnet sich ab.

STANDARD: Private Medienhäuser und Verlage monieren, dass ihnen der ORF aufgrund seiner Dominanz die Luft zum Atmen nimmt. Wie lässt sich der Spagat bewerkstelligen?

Novy: Ich kann die Frustration der privaten Anbieter nachvollziehen, was Themen wie die aus meiner Sicht sehr weitreichende ORF-Werbeerlaubnis angeht. Natürlich muss es fairen Wettbewerb geben, müssen die Entwicklungschancen privater Publizistik gewahrt bleiben, sie leisten Daseinsvorsorge für die Demokratie wie die Öffentlich-Rechtlichen. Vor allem braucht es neue Formen der Presseförderung, möglichst nicht nach der Gießkanne, nicht nur Platzhirschen auf der Intensivstation vorbehalten, sondern für Innovation und nach nachvollziehbaren, überprüfbaren Kriterien.

Aber ich glaube, dass wir in unseren jeweiligen Ländern in stark ritualisierten Grabenkämpfen verhaftet sind, die an den wahren Herausforderungen vorbeigehen: der asymmetrischen Beziehung von Verlagen, Öffentlich-Rechtlichen und unseren Gesellschaften insgesamt zu den Plattformen und der Frage, in welcher Medienlandschaft wir eigentlich in Zukunft leben wollen. Die Antwort darauf liegt meines Erachtens in mehr Kooperation zwischen Privaten und Öffentlich-Rechtlichen statt unserer teils sehr reflexhaften und vor allem gegenwartsfixierten Debatten. Diese Kooperation zu organisieren und dafür faire Rahmenbedingungen zu schaffen, dafür braucht es eine strategiefähige Medienpolitik, die nicht nur das Hier und Heute und partikulare Interessen im Blick hat, sondern die Erfordernisse und Entwicklungsdynamiken unserer Öffentlichkeit insgesamt.

"Rolle und Auftrag des ORF über Verbot oder Erlaubnis bestimmter Kanäle zu regeln, erscheint mir realitätsfern, antiquiert und kontraproduktiv. Es beraubt die Öffentlich-Rechtlichen ihrer Entwicklungs- und Anschlussfähigkeit."

STANDARD: Vielfach kritisiert wird, dass der ORF Inhalte für Social Media produziert und damit jene Plattformen stopft, die eigentlich in puncto Werbeerlöse und Konsum die Gegner sind. Muss er das tun, um die jungen Zielgruppen zu erreichen, oder haben die Kritiker recht?

Novy: Natürlich ist es ein Problem, dass öffentlich finanzierte Sender ihre Inhalte den Plattformen zur Verfügung stellen. Aber solange wir keine Alternativen zu den Kommerziellen haben, führt daran kein Weg vorbei. Sie müssen da sein, wo die Menschen sind, also auch auf den Plattformen. Sonst kann man sie gleich zusperren. Ich glaube auch nicht, dass entsprechende Restriktionen die Probleme der privaten Anbieter lösen würden: Bei den Online-Werbeerlösen ist der Wettbewerb in Österreich ohnehin sehr klein. Und der Löwenanteil fließt eh zu den Plattformen. Und ganz grundsätzlich: Rolle und Auftrag des ORF über Verbot oder Erlaubnis bestimmter Kanäle zu regeln, erscheint mir realitätsfern, antiquiert und kontraproduktiv. Es beraubt die Öffentlich-Rechtlichen ihrer Entwicklungs- und Anschlussfähigkeit. In Deutschland sprechen wir nach diversen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts von der Grundversorgung der Bevölkerung. Das beschreibt keinen statischen Zustand. Ihre konkrete Ausgestaltung muss dynamisch weiterentwickelt und den jeweiligen Bedingungen angepasst werden.

STANDARD: ProSiebenSat1Puls4-Chef Markus Breitenecker hat gemeint, der ORF könnte seine Inhalte für die jungen Zielgruppen heimischen Medien zur Verfügung stellen und auf deren Kanälen ausspielen, statt sie etwa auf Plattformen wie Youtube zu bringen. Was halten Sie von dem Vorstoß?

Novy: Absolut einverstanden. Die Kooperation, die ich meine, ist keine Einbahnstraße. Aus meiner Sicht spricht, wenn man das System insgesamt im Sinne der gerade skizzierten Vision auf andere Füße stellt, nichts dagegen, dass der ORF, wie von Eugen A. Russ zuletzt auch im STANDARD gefordert, die Inhalte, die er auf Social Media stellt, schon heute auch den Onlineportalen der Verlage zur Verfügung stellt.

STANDARD: In Deutschland ist aktuell häufiger die Rede von einem "gemeinwohlorientierten Kommunikationsnetzwerk", das aus ARD und ZDF entstehen könnte. Was ist damit gemeint? Und wäre das auch ein Modell für den ORF?

Novy: Ja, der Begriff wabert, auch dank der wichtigen Impulse von Leonhard Dobusch und anderen, seit geraumer Zeit durch die Debatte. Nachdem auch die deutsche Medienpolitik daran Gefallen gefunden hat, nimmt diese Idee langsam Konturen an. Ich glaube, da ist viel dran, wenn man es kooperativ, offen und interaktiv anlegt. ARD, ZDF etc. blieben als Marken bestehen, wären aber zugleich auch Betreiber einer Plattform mit offenen Standards, die auch anderen, privaten Medien, aber auch Akteuren aus Kultur, Bildung, Zivilgesellschaft und so weiter offen stünde. Und die dabei anderen, demokratiefördernden Sortier- und Empfehlungslogiken unterliegt und nicht allein der Maximierung der Verweildauer dient. Private Medien hätten so eine verlässliche Umgebung jenseits der geschlossenen Black-Box-Märkte der Techfirmen, wo sie ja keinerlei Kontrolle haben.

STANDARD: Und die Nutzer würden davon profitieren?

Novy: Den Nutzerinnen und Nutzern wiederum, die ja bislang ebenfalls der algorithmischen Willkür der Plattformen ausgeliefert sind, böte ein solches Projekt ein höheres Maß an Nachvollziehbarkeit und Selbstbestimmung im Umgang mit ihren Daten. Und zwar nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Produzenten, das heißt, man könnte so eine Plattform auch für nutzergenerierte Inhalte öffnen. Auch auf Youtube finden sich ja zum Beispiel tolle Bildungskanäle, warum sollte das nicht in einer wirklich gemeinwohlorientierten Umgebung stattfinden?

Denkt man den Grundgedanken des öffentlich-rechtlichen Rundfunks konsequent weiter, so liegt seine Berechtigung in Zukunft vielleicht tatsächlich gerade in dieser Plattformfunktion. Darin, dass er nicht nur selbst Angebote produziert, vielleicht sogar eher weniger, sondern die infrastrukturellen Voraussetzungen für fundierte Information und gesellschaftlichen Diskurs im Digitalen schafft. Schule, Straße, Feuerwehr: Auch andere gemeinsam genutzte Infrastrukturen, die der Markt nicht in ausreichendem Maße oder ausreichender Qualität bereitstellt, organisieren wir ja gesellschaftlich. Das ist alles ein "long shot", nicht ohne weiteres übertragbar, enthält aber dennoch relevante Ansätze für Österreich. Es setzt aber Veränderungen bei der Governance voraus, vor allem Garantien, dass beim ORF nicht eine Partei durchregieren kann.

"Die Reichweite eines solchen Medienökosystems wäre jedenfalls die erste publizistisch getriebene Struktur, die sich auf Augenhöhe mit den kommerziellen Monopolisten befindet."

STANDARD: In Sachen Mediatheken möchte der ORF enger mit ARD und ZDF kooperieren. Könnte so eine Plattform öffentlich-rechtlicher Sender den internationalen Streamingportalen etwas entgegensetzen?

Novy: Die Reichweite eines solchen Medienökosystems wäre jedenfalls die erste publizistisch getriebene Struktur, die sich auf Augenhöhe mit den kommerziellen Monopolisten befindet – und sich, etwa in der Konfektionierung von Inhalten und im Umgang mit Daten, gleichzeitig deutlich davon unterscheidet. Für die öffentlich-rechtlichen Sender eröffnen sich damit völlig neue Perspektiven und gesellschaftliche Aufgaben. Sie müssen weder ihre Angebote Traffic-orientiert auf Emotion und Sensation ausrichten, noch leben sie vom Verkauf personenspezifischer Daten.

Aus publizistisch-inhaltlicher Perspektive würde ein solches Netzwerk es ermöglichen, die asymmetrische Beziehung zu den globalen Plattformen wieder zu einer Auseinandersetzung über Inhalte zu machen. Mit dieser Vision sind unzählige technische, rechtliche, ökonomische und nicht finanzielle Fragen und Zielkonflikte verbunden. Aktuell sind ARD und ZDF dabei, bestehende Mediatheken zu verweben, schon das gestaltet sich technisch enorm aufwendig. Dem stehen beträchtliche Chancen gegenüber – sowohl mit Blick auf eine zeitgemäße und effektive Realisierung des Gemeinwohlbeitrags der Öffentlich-Rechtlichen als auch hinsichtlich der Stärkung unserer Medienlandschaften und des Journalismus insgesamt.

STANDARD: Sie bringen auch ein offenes Medienökosystem ins Spiel, mit dem öffentlich-rechtliche Sender und Privatsender ihre Public-Value-Produktionen fördern lassen könnten. Wie könnte das konzipiert sein?

Novy: Zunächst einmal: Public Value im Sinne gemeinwohlorientierter Inhalte und Darstellungsformen haben die Öffentlich-Rechtlichen nicht exklusiv. Und angesichts der geschilderten Herausforderungen sind Kooperationen meines Erachtens unerlässlich. Der ARD-Vorsitzende Kai Gniffike bemüht neuerdings häufig das Bild eines Marktplatzes, wo es Stände mit kostenlosen Angeboten gibt, an anderen kann man Produkte käuflich erwerben. Entscheidend sei, überhaupt eine kritische Masse an Nutzerinnen und Nutzern zusammenzubekommen. Damit hat er recht, denn der Wettbewerb entscheidet sich schon lange nicht mehr auf der Angebots-, sondern auf der Empfängerseite. Knappes Gut ist nicht mehr der Zugang zur Öffentlichkeit, sondern Aufmerksamkeit. Und wenn Menschen nur noch auf den Plattformen der amerikanischen und chinesischen Plattformen unterwegs sind, dann haben wir alle ein Problem – auch wenn die Plattformen über Leistungsschutzrechtsgesetze, News-Media-Bargaining-Codes oder ihre philanthropischen Medienförderprojekte ein paar Brotkrumen von ihren Gewinnen abgeben. Denkbar wäre bei dieser Vision auch, noch mal anders über die Beitragsverwendung nachzudenken und die Privaten partizipieren zu lassen.

STANDARD: Wie?

Novy: Trennt man bei den Öffentlich-Rechtlichen die Inhalteproduktion von der technologischen Verbreitung – also auf der einen Seite Redaktion und Produktion des ORF wie bisher, auf der anderen Seite die Bereitstellung eines öffentlich-rechtlichen, aber offenen Medienökosystems –, so könnte man überlegen, einen Teil der Erträge der Haushaltsabgabe direkt an förderwürdige Projekte privater Medien oder gemeinnütziger Akteure zu vergeben. Also eine Art drittes System außerhalb der klassischen Sender- und Beauftragungsstrukturen zur gezielten Unterstützung gesellschaftlich relevanter kreativer Leistungen und innovativer Formate mit einem als Stiftung oder ähnlich organisierten Fonds, über den die Vergabe läuft. Vielfalt, Wettbewerb und Innovation des Gesamtsystems können davon nur profitieren.

STANDARD: Der ORF-Stiftungsrat als wichtigstes Gremium des ORF ist parteipolitisch besetzt. Die ÖVP möchte ihn nicht reformieren, weil sie dort mit ihren Stiftungsräten die Mehrheit hält. Wie dringend wäre eine Entpolitisierung der Aufsichtsgremien? Auch in Sachen Akzeptanz des ORF?

Novy: Ich glaube, dass sowohl in Deutschland als auch in Österreich nicht nur die Aufstellung, sondern auch die Governance der Öffentlich-Rechtlichen Reformen braucht. Es sind die Gremien, die – in der Theorie – den USP öffentlich-rechtlicher Medien gegenüber Privaten ausmachen. Denn die Öffentlich-Rechtlichen sind im wahrsten Wortsinne "unsere Medien". Sie dienen uns als Bürgerinnen und Bürger – nicht als Kunden oder Konsumentinnen. Das heißt, die Gebührenzahler – nicht die Politik – sind letzten Endes ihre Auftraggeber und Teilhaber, denn sie finanzieren sie. In Deutschland gilt das Prinzip der Staatsferne, die Zahl der staatsnahen Vertreter in den Gremien gilt zu Recht als nach wie vor zu hoch.

"Wie der Parteienstaat in Österreich schon qua Besetzungspraxis in die Gremien hinwirkt, ist schon befremdlich."

STANDARD: In Österreich ist es noch schlimmer?

Novy: Wie der Parteienstaat in Österreich schon qua Besetzungspraxis in die Gremien hinwirkt, ist schon befremdlich. Das ist schlichtweg aus der Zeit gefallen und schadet der Akzeptanz, ganz unabhängig davon, wie, mit welchen Motiven und Loyalitäten jeder einzelne Stiftungsrat de facto sein Amt wahrnimmt. Auch die vorhin besprochene Vision eines Kommunikationsnetzwerks ist ohne wirkliche Staatsferne obsolet. Und dann haben wir noch nicht über Repräsentation und Responsivität geredet: Gelingt es den Gremien, in ihrer Zusammensetzung die heutige Gesellschaft in ihrer Vielfalt abzubilden, mit ihr in den Dialog zu gehen und transparent über die eigene Arbeit zu informieren? Bei beiden Dimensionen scheint es mir gehörig Luft nach oben zu geben. (Oliver Mark, 26.4.2023)