Auf Du und Du mit den Symbolen der französischen Republik: Alain Finkielkraut, streitbarer Geist und nationaler Unruheherd.

Foto: Stephane de Sakutin

Der Feminismus unserer Tage dünkt ihn "gigantomanisch", die Ächtung und Strafverfolgung des Filmproduzenten Harvey Weinsteins besitzt für ihn Züge einer maßlosen Lynchjustiz. Alain Finkielkraut (73), Frankreichs streitbarster jüdischer Intellektueller, scheut keine verbalen Raufhändel. Die Imperative der neuen Benimmkultur widern den Sohn eines polnischen KZ-Überlebenden an. Weinstein, der Vergewaltigung für schuldig befunden, wurde anlässlich einer Filmpreisverleihung mit folgender Bemerkung gewürdigt: "Weinstein wird in zwanzig Jahren in der Rolle des ersten Menschen zurückkehren, den man auf seiner Beerdigung ausgebuht hat."

Vielleicht, so Finkielkraut, verdient sogar ein dereinst beerdigter Wüstling jenes respektvolle Schweigen, das allein der Tod gebietet. An der neuen Moral erschüttert den Meinungsmacher die altbekannte Rohheit. In der nunmehr auf Deutsch vorliegenden Essaysammlung Vom Ende der Literatur sammelt Finkielkraut, seit 2014 Mitglied der Académie française, fieberhaft Belege für das, seiner Meinung nach: Umkippen der Neo-Moral.

Die Scharfmacher unter den neuerdings Sensibilisierten reizen ihn bis aufs Blut. Die Abrechnung mit Filmregisseur Roman Polański (letzterer wurde 1977 des Missbrauchs einer Jugendlichen für schuldig befunden): ein Schauprozess, durchgeführt von Vertretern der Unerbittlichkeit. In Vergessenheit geraten sei, schreibt Finkielkraut, dass Polańskis Opfer ihrem Verführer längst verziehen habe. Die Empörten behielten immer recht. Die Abrechnung mit den Relikten "hetero-patriarchaler Unterdrückung" wecke Blutdurst. Kunstwerke und deren Urheber würden zu einem ununterscheidbaren Brei vermanscht.

Als man Polański, den Vergewaltiger, aus Anlass einer César-Verleihung verfemen zu müssen glaubte, setzten zwei Aktivistinnen folgenden Tweet ab: "Wer das Gas verdient hätte, war Polański."

Menschliche Vielfalt

Gemeint war angeblich Tränengas, eingesetzt gegen Anti-Polański-Demonstranten. Finkielkraut erinnert seinerseits an Polańskis Biografie als Holocaust-Überlebender, an die entsetzlichen Umstände, unter denen Sharon Tate, die damalige Frau des Regisseurs, 1969 zu Tode kam. Die Neo-Moral sei gnadenlos binär. Sie opfere "die menschliche Vielfalt der Dringlichkeit des Kampfes". Gegen derartige Exzesse weiß Finkielkraut bloß ein einziges Kraut gewachsen: Er plädiert im Zweifel für die Singularität, um gegen das Übel der Verallgemeinerung gewappnet zu sein. Neofeminismus bedinge "Gefühlsverarmung". In seinem Namen würden der erzwungene Liebesakt und die obszöne Äußerung in den nämlichen schartigen Topf geworfen.

Heilung von der Intoleranz "woker" Aktivistinnen verheiße einzig und allein die Literatur: Deren Schönheit preist Finkielkraut, indem er zum Beispiel ausführlich für seine beiden Hausheiligen Philip Roth und Milan Kundera Partei ergreift. Roth, so Finkielkrauts Mutmaßung, würde mit einem Roman wie Der menschliche Makel heute in Teufels Küche geraten.

Literatur bildet das Reich der Grauschattierungen, der tragischen Inkonsequenz. In ihm werden Menschen zu Handlungen verführt, die umso weniger preiswürdig sind, je nachvollziehbarer der Künstler, die Künstlerin sie gestaltet. Die "literarische Weltsicht" ist sohin eine tragische. Die (angebliche) Herrschaft der politisch Korrekten versperrt sich gegen jede Ambivalenz. Die Neo-Moralisten seien zimperlich.

Ludwig van Beethoven? War aus Anlass seines 250. Geburtstages für Studenten in Cambridge bloß noch ein toter Hund: "too pale, too male, too stale" ("zu weiß, zu männlich, zu abgestanden"). Finkielkraut scheut, ungeachtet seines Scharfsinns, keineswegs die Verallgemeinerung. Der überschießende Eifer vieler Neo-Moralisten reimt sich in seinen Einlassungen allzu glatt auf dieses und jedes. Er nimmt dann an Greta Thunberg Anstoß, bloß weil ihm Windräder gegen den Strich gehen: als Vernichter des Landschaftsbildes. Oder er beklagt, dass es uns Heutigen "am Mangel mangle". Wer aber meldet freiwillig ein Recht auf Mangel an, wenn er diesem, etwa mit Blick auf erlittenes Unrecht, abhelfen möchte?

Literarische Ironie

Alain Finkielkraut bleibt ein unberechenbarer Heißsporn. Ein freier Radikaler, ein Unruheherd, der sich im Fernsehen schon einmal aus Mutwillen gegenüber einer Feministin als "Vergewaltiger" bezeichnet. Er habe im Tone literarischer Ironie gesprochen, wie Cyrano de Bergerac über seine lange Nase, rechtfertigte er sich anschließend.

Es sind manchmal doch die älteren, weißen Männer, die ihre Narrenfreiheit genießen. Schließlich hat Finkielkraut auch die Einwanderung in Frankreich wiederholt bitter beklagt. (Ronald Pohl, 25.4.2023)