In der Blockchain, einer Art dezentraler Datenbank, können Daten unveränderlich gespeichert werden. Das könnte auch für den Staat interessant sein.

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Angenommen, Sie kaufen ein Auto. Sie schließen mit dem Händler einen Kaufvertrag, der Ihnen das Fahrzeug vor die Haustür stellt. Weil Sie allerdings noch nicht die Kfz-Steuer bezahlt haben, verweigert die Zündung ihren Dienst. Erst wenn die Steuerschuld auf dem Konto des Finanzamts eingegangen ist, wird der Motor freigegeben.

Das mag auf den ersten Blick unwirklich erscheinen, könnte aber schon bald Wirklichkeit werden. Mit smarten Verträgen, in Code gegossenen Wenn-dann-Vorschriften, gibt es Computerprogramme, die beim Eintritt vorab festgelegter Bedingungen – zum Beispiel Zahlung der Steuer – automatisch Aktionen ausführen. Die Parteien schließen einen digitalen Vertrag, der auf einer Blockchain, einer Art digitalem Kassenbuch, als Protokoll hinterlegt wird. Tritt das binär codierte Ereignis – Zahlung Ja oder Nein – ein, führt sich der smarte Vertrag selbst aus. Einen Vollstrecker braucht es nicht.

Ein Gebrauchtwagen könnte künftig erst starten, wenn der Kauf auf der Blockchain validiert ist.
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Der amerikanische Informatiker und Jurist Nick Szabo hat das Prinzip erstmals 1994 formuliert, zu einer Zeit, in der man sich noch mit dem Fiepen des Modems ins World Wide Web einklinkte. Die Idee dahinter war, kryptografisch gesicherte Vertragsbedingungen in Soft- und Hardware abzubilden und dadurch die Transaktionskosten zu senken.

Den Mittelsmann raus

Der Aufsatz mit dem schlichten Titel "Smart Contracts", der noch in der Optik des Web 1.0 gehalten ist, liegt heute etwas angestaubt auf einem niederländischen Server. Das Konzept, das den Geist der anarchistisch-libertären Cypherpunk-Bewegung atmet, hat so viel Sprengkraft, dass es nicht nur die Unternehmenslandschaft, sondern auch die Staatenwelt durcheinanderwirbeln könnte. Mit kryptografischen Schlüsseln könnten intermediäre Akteure wie Banken, Notare oder Parteien überflüssig werden. Wo der smarte Vertrag sich selbst überwacht, braucht es keine Prüfinstanz. "Cut Out the Middleman", haut den Mittelsmann raus, riefen schon die Anhänger der kalifornischen Gegenkultur.

Bei Immobilientransaktionen könnten Smart Contracts künftig eine größere Rolle spielen.
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Es laufen bereits einige Experimente mit der Blockchain im öffentlichen Sektor. In Schweden zum Beispiel können Immobilientransaktionen wie etwa Grundstückskäufe in ein digitales Blockchain-Grundbuch eingetragen werden. In New York wurden während der Corona-Pandemie mobile Impfnachweise über Datenblöcke zertifiziert. Und in Deutschland experimentierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit einer Blockchain-Lösung, die den Ablauf des Asylprozesses dokumentiert.

Die Blockchain könnte zum Betriebssystem des digitalen Staates werden. Geburtsurkunden, Grundbucheinträge, Handelsregister – Daten, die sonst zentral beim Staat gespeichert werden, werden von Bürgern in einer Art Selbstverwaltung in dezentralen Datenbanken verwahrt. Wer braucht noch Gesetze, wenn es Computerprogramme gibt? "Code is law", formulierte es der US-Verfassungsrechtler Lawrence Lessig schon vor über 20 Jahren. Der Code ist das Gesetz.

Das iTunes der Politik

Die Tech-Vordenker im Silicon Valley träumen von Cloud-Nationen und "Plattformen", einem "iTunes für Politik", wo man sich die gewünschten Programme per App herunterlädt. Für Libertäre wie Peter Thiel ist der Globus ein Markt, den eine viel zu kleine Zahl von Monopolisten unter sich aufgeteilt hat: Acht Milliarden Menschen sind "Kunden" von nur 192 Ländern. Warum nicht die Staatsbürgerschaft wie einen Handy-Vertrag auswählen?

Es gibt bereits eine Reihe von Mikronationen wie Bitnation, die klassische Verwaltungsleistungen wie etwa die Registrierung von Flüchtlingen auf der Blockchain anbieten. Estland hat vor einigen Jahren im Rahmen seines E-Residency-Programms eine "virtuelle" Staatsbürgerschaft eingeführt, die es auch ausländischen Unternehmen ermöglicht, in den Genuss von EU-Freizügigkeitsrechten oder digitalen Behördengängen zu kommen.

Die Entstehung von Staaten ist historisch eng mit der Fähigkeit zur Datenverarbeitung verbunden. Im 19. Jahrhundert wurden in Europa die ersten Statistikämter gegründet, die systematisch Daten über die Bevölkerung, die Zahl der Häuser und Gehöfte erhoben. Erst Vermessungstechniken schufen die Grundlagen für Liegenschaftskataster, die wiederum die Voraussetzung für die Besteuerung von Grundstücken waren. Der Staat praktizierte mit Statistiken also Big Data, bevor dieser Begriff überhaupt erfunden wurde.

Amazon weiß, wer hustet

Doch die "Wissenschaft vom Staat", wie der Philosoph Michel Foucault die Statistik bezeichnete, ist nicht mehr länger beim Staat monopolisiert. Tech-Konzerne haben eine viel hochauflösendere Sicht auf die Bevölkerung: Amazon analysiert mithilfe von Alexa, wer gerade hustet und Grippesymptome aufweist. Apple fühlt den Puls von 100 Millionen Apple-Watch-Trägern auf der Welt. Und Google weiß, wo gerade Gebrauchtwagen gesucht werden. Zentralbanken verfeinern daher ihre ökonomischen Modelle mit Suchmaschinendaten.

Amazons Alexa weiß ziemlich viel über seine Nutzerinnen und Nutzer.
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Allein die Digitalisierung der Verwaltung kommt in den meisten Ländern nur schleppend voran. In den Amtsstuben werden noch immer Faxe und Briefe verschickt. Der Verwaltungsstaat operiert mit dem Werkzeugkasten des 19. Jahrhunderts, der in einer digitalen Gesellschaft, in der Vorschriften in Codes formuliert werden, seltsam antiquiert wirkt. Kein Wunder, dass die Tech-Vordenker den Staat für eine überkommene Technologie halten, die mit der richtigen Software upgegradet werden müsste.

An innovativen Steuerungsmodellen mangelt es in der Krypto-Welt nicht. So gibt es mit Dezentralen Autonomen Organisationen (DAOs) vollautomatisierte Investmentfirmen, die ganz ohne Chef auskommen: Statt eines Vorstands entscheiden die Netzwerkteilnehmer im Kollektiv. Sämtliche Regeln sind in einem Blockchain-Protokoll gespeichert, das Transaktionen aufzeichnet und Entscheidungen ausführt. Das Unternehmen existiert nur virtuell ohne physischen Firmensitz. Der Chef ist quasi der Code.

In der Krypto-Szene gibt es Überlegungen, mit solchen nichthierarchischen DAOs auch Politiker zu ersetzen und politische Prozesse auf die Blockchain zu setzen. Jeder Bürger könnte Gesetzentwürfe einbringen, über die alle Netzwerkteilnehmer abstimmen.

Kaum manipulationsanfällig

Das Verfahren wäre für alle transparent und nachvollziehbar und kaum manipulationsanfällig, weil ja schon das zugrunde liegende Konsensverfahren basisdemokratisch organisiert ist: Um der Datenkette einen Block hinzuzufügen, muss dieser von der Mehrheit der Teilnehmer validiert werden. Die Ergebnisse dieser Abstimmungen könnten schließlich an die Bedingungen smarter Verträge geknüpft werden: Wenn etwa die Regierung ihre Klimaziele nicht erfüllt, könnte ihr das Vertrauen entzogen werden. Klingt nach einer Utopie? Nur auf den ersten Blick.

Denn die Blockchain-Server sind selbst wenig klimafreundlich. Bitcoin verbrauchte zeitweise mehr Strom als Argentinien, ein Land mit 46 Millionen Einwohnern. Zwar hat die Ethereum-Blockchain im vergangenen Jahr ihr Verfahren umgestellt – die Validierung hängt nicht mehr von der Rechenleistung, sondern von Einlagen ab. Trotzdem muss irgendjemand die Regeln festlegen.

Hinzu kommt: Daten können in der Blockchain nachträglich nicht geändert werden. Gerade die Möglichkeit, dass die Spielregeln geändert werden könnten, macht aber den demokratischen Prozess erst aus. Was man in den Protokollen festschreibt, muss nach demokratischem Verständnis Gegenstand von Wahlen und Abstimmungen sein. Sonst droht die Blockchain-Demokratie zu einer elitären Veranstaltung zu werden, die ihre Verfechter eigentlich verhindern wollen. (Adrian Lobe, 6.5.2023)