Für "20.000 especies de abejas" gewann die achtjährige Sofía Otero auf der Berlinale einen Silberbären.

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Vom Krieg in der Ukraine gibt es viele Bilder. Aber welchen kann man trauen? Eine Möglichkeit ist, sich eine Gewährsperson zu suchen, die mit dem eigenen Leib und Leben für ihre Wahrheit einsteht. So hat das Vitaly Mansky bei seinem Film Shidniy Front(Eastern Front) gemacht. Er hat sich mit einem Notfallsanitäter zusammengetan, dessen Helmkamera das entscheidende Instrument ist. So nah kommt man dem Kampfgeschehen selten, man weiß nach dem Film genauer, wofür die Munition gebraucht wird, mit der die Ukraine tendenziell unterversorgt ist.

Die Ukraine wäre auch auf jedem anderen Filmfestival in diesen Tagen ein großes Thema, bei Crossing Europe aber liegt es nahe, noch einmal genauer hinzuschauen. Denn jedes Jahr im Frühling wächst in Linz der Kontinent wieder ein Stückchen mehr zusammen. Und die Ukraine war bei dem Festival, das seit 2004 besteht, schon längere Zeit mittendrin in dem erweiterten Europa, das sich hier abzeichnet.

Identitätsfragen einer Achtjährigen

Shidniy Front ist einer von vier Eröffnungsfilmen der diesjährigen Ausgabe, die am Mittwoch beginnt und bis zum 1. Mai läuft. Der Umstand, dass sich selbst die Eröffnung auf vier Termine verteilt, sagt viel über den umsichtigen Charakter dieses Festivals aus.

Die Spielfilme starten mit 20.000 especies de abejas von Estibaliz Urresola Solaguren, einer Entdeckung bei der Berlinale dieses Jahres. Die achtjährige Sofía Otero steht hier im Mittelpunkt eines weiblichen Kosmos, den die baskische Regisseurin rund um ein Kind entfaltet, das seine geschlechtliche Identität nicht mit seinem Namen zusammenbringt.

Neben den Hauptreihen zu Spiel- und Dokumentarfilmen gibt es auch kuratierte Sonderreihen, zum Beispiel für die Schauspielerin Angeliki Papoulia, die in dem dritten Eröffnungsfilm A Blast von Syllas Tzoumerkas zu sehen ist: einer ziemlich wilden Darstellung der griechischen Finanzkrise, von der man hier auch fragen kann, ob sie tatsächlich schon "verdaut" ist.

Grusel, Grusel

Eine Reihe für Grusel und ähnliche Genreregister gibt es schließlich auch, sie heißt Night Sight (Nachtsicht) und wird dieses Jahr mit Svetlonic (Nightsiren), einer slowakischen Hexengeschichte von Tereza Nvotová, eröffnet.

Durch das restliche Programm kann man sich mit der Lust und Laune bewegen, die einem der Finger auf der Landkarte eingibt. Aus Russland kommt zum Beispiel How to Save a Dead Friend, das Langzeitprojekt von Marusya Syroechkovskaya, die ihre Beziehung zu Kimi, ihrer großen Liebe, dokumentiert hat. Das Elend in der Provinz von Putins Russland wird hier nur gebrochen durch jugendliche Dissidenz, die aber einen todtraurigen Sieg der Melancholie nicht verhindern kann.

Sehr langsam sterben

In eine ganz andere Richtung geht der finnische Film Sisu von Jalmari Helander, der unverfroren mit Folterpornomotiven einen nördlichen Antifaschismus beschwört. Den Filmtitel könnte man ein wenig frei mit Stirb sehr langsam übersetzen (nämlich so langsam, dass du vorher noch jede Menge Nazis um die Ecke bringen kannst). Sisu ist grober Schund, aber auf der richtigen Seite. Danach am besten eine Ladung Bastel- und Heimkino: Eigentlich eigentlich Januar von Jan Peters aus der Mitte Deutschlands. Oder einfach einen Zufallsfilm. Die Chancen, dass es ein guter ist, sind bei Crossing Europe aus Erfahrung nicht schlecht. (Bert Rebhandl, 26.4.2023)