In der Region Charkiw steht Witali Orlow vor den Trümmern seiner Getreidesilos. Getreidebauer ist heutzutage ein gefährlicher Beruf in der Ukraine.

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Am Dienstag lief das Frachtschiff Michalakis aus dem ukrainischen Hafen Odessa in Richtung Spanien aus. Im Konfliktland Ukraine hatte das Schiff fast 44.000 Tonnen Weizen geladen. Die Michalakis gehört zu den Hunderten von Schiffen, die seit Juli vergangenen Jahres mit Agrargütern für den Weltmarkt die Kornkammer Ukraine verlassen haben.

Sie alle stachen laut den Vorgaben der Schwarzmeer-Getreide-Initiative in See. UN-Generalsekretär António Guterres nennt die Übereinkunft zu einem sicheren Export einen "Hoffnungsträger". Tatsächlich dürfte ein vergleichbares Abkommen, an dem sich zwei Kriegsgegner beteiligen, in der Geschichte nicht oft vereinbart worden sein.

Doch Russland, das die Ukraine angegriffen hat, droht so scharf wie noch nie, aus der Getreide-Initiative auszusteigen. Die Regierung von Präsident Wladimir Putin setzt somit den Hunger gezielt als Waffe ein. Das Verteidigungsministerium in Moskau warf der Regierung in Kiew vor, die Gewässer um Odessa als Ausgangspunkt für Angriffe auf Russlands Schwarzmeerflotte zu nutzen.

"Terroristische Aktionen des Kiew-Regimes gefährden eine weitere Verlängerung der Getreide-Initiative nach dem 18. Mai", warnte das Ministerium. Russlands Außenminister Sergej Lawrow geht schon seit Wochen auf Distanz zu dem Übereinkommen. Er beschuldigt den Westen, russische Agrarexporte zu behindern.

Politische Bedeutung

Mit Wirkung 18. März 2023 hatten die Russen einer Verlängerung der Initiative nach langem Tauziehen noch einmal zugestimmt, um 60 Tage. Davor belief sich die Frist auf zweimal 120 Tage. "Ein Ende der Schwarzmeer-Getreide-Initiative wäre ein schwerer Schlag für den Welthandel", betont Ralph Ossa, der Chefökonom der Welthandelsorganisation. "Die Initiative ist für die Ernährungssicherheit, vor allem armer Länder, unerlässlich."

Der Lieferausfall von Millionen Tonnen Lebensmitteln pro Monat könnte die Preise stark in die Höhe treiben. Auch die politische Bedeutung der Initiative fällt ins Gewicht. Die Vereinbarung gilt in der hasserfüllten Atmosphäre des russischen Angriffskrieges als Versuch einer vertrauensbildenden Maßnahme.

Das Paket gehört zu den wenigen Übereinkommen, denen die Konfliktparteien zustimmten. Tatsächlich hat die Schwarzmeer-Getreide-Initiative bislang die Verschiffung von fast 29 Millionen Tonnen Getreide und anderen Agrargütern aus der Ukraine ermöglicht. Wobei bis Mitte März 55 Prozent der Exporte in Entwicklungsländer gingen.

Größte Exporteure

Die Ukraine und Russland zählten vor Beginn der großangelegten Moskauer Invasion am 24. Februar 2022 zu den weltweit größten Agrarexporteuren. Allein die Ukraine lieferte rund 45 Millionen Tonnen Getreide jährlich in andere Volkswirtschaften. Nach dem russischen Einmarsch in das Nachbarland blockierten die Kreml-Streitkräfte die ukrainische Ausfuhr über das Schwarze Meer. Weltweit bekamen die Menschen die Teuerungen und den Ausfall der Lieferungen zu spüren.

Doch "die Schwarzmeer-Getreide-Initiative trug dazu bei, weitere Marktbeunruhigungen zu reduzieren und die Getreidepreise zu senken", heißt es in der nüchternen Sprache der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO. Im Juli 2022 hatten sich die Ukraine, Russland und die Türkei in Istanbul auf die Initiative geeinigt. Die UN vermittelten. Die Parteien vereinbarten die sichere Ausfuhr von ukrainischem Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten aus Odessa und zwei weiteren Häfen.

Russen sehen Korrekturbedarf

Die Kontrahenten gaben Schutzgarantien und vereinbarten Inspektionen, um Waffenschmuggel zu unterbinden. Eine zweite Vereinbarung kam in Istanbul zwischen den Vereinten Nationen und Moskau zustande. In einem "Memorandum of Understanding" willigten die UN ein, sich für die ungehinderte Ausfuhr russischer Lebensmittel und Düngemittel auf die Weltmärkte einzusetzen.

Doch bei der Umsetzung des Memorandums sehen die Russen Handlungsbedarf. Außenminister Lawrow verlangt insbesondere von den USA, der EU sowie Großbritannien die Abschaffung von Exportbarrieren für russische Güter. "Wenn sie diese Angelegenheit nicht ehrlich angehen wollen, können sie die entsprechenden Produkte auf Autobahnen und Flüssen aus der Ukraine transportieren", höhnte der russische Außenminister.

Drohungen aus Moskau

Lawrow beklagt, dass russische Außenhandelsfirmen vom Zahlungsverkehr abgeschnürt seien, Seehäfen ließen ihre Schiffe nicht einlaufen. Falls der Westen weiter die russischen Exporte behindere, werde Moskau im Gegenzug die Schwarzmeer-Getreide-Initiative platzen lassen. Die EU will die Argumente Moskaus nicht gelten lassen. Die EU-Sanktionen verbieten nicht die Einfuhr, die Ausfuhr, den Kauf oder den Handel mit Lebensmitteln aus Russland, schreibt die EU in einem Positionspapier. Und weiter: "Russland trägt die volle Verantwortung für diese Situation. Wenn es keinen Krieg gäbe, gäbe es auch keine Handelsprobleme." (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 26.4.2023)