Vor rund 45.000 Jahren, vielleicht sogar schon etwas früher, erreichte der moderne Mensch nach seiner Auswanderung aus Afrika die mittleren Breiten Europas. Während unsere früheren Vorfahren auf den Ebenen des südlichen Kontinents mit der Jagd und dem Sammeln von leichter verdaulichen Pflanzen, Obst und Samen ihr Auslangen fanden, kämpften die ersten Europäerinnen und Europäer vor allem während des Letzteiszeitlichen Maximums (LGM) vor rund 25.000 Jahren bei der ausgewogenen Ernährung mit größeren Schwierigkeiten.

Kostbare Kohlenhydrate

An Proteine zu gelangen war dabei die geringste Sorge: Erlegte ein Stamm ein Mammut oder einen großen Wiederkäuer, gab es wohl genug Fleisch für alle. Aber wie deckte Homo sapiens damals vor allem im Winter, wenn das Angebot an verfügbaren Nahrungsquellen drastisch schrumpfte, seinen Bedarf an pflanzlichen Kohlenhydraten? Eine mögliche Antwort auf diese umstrittene Frage hat nun eine Anthropologin von der Universität Michigan in Ann Arbor vorgeschlagen: Die Menschen bedienten sich an den vorverdauten Pflanzen in den Mägen ihrer Beutetiere.

Pflanzenmaterial, das sich auf halbem Weg durch den Verdauungstrakt von Wiederkäuern wie Bisons befand, könnte eine wichtige Ernährungslücke der eiszeitlichen Bevölkerung Europas geschlossen haben.
Foto: University of Michigan

Durch den Kontakt mit fermentierenden Mikroben im Verdauungstrakt der Pflanzenfresser wird Zellulose zu Zucker abgebaut. Das würde die Nährstoffe der Gräser, rohfaserreiche Pflanzen und Blätter auch für unser Verdauungssystem verfügbar machen, schreibt Raven Garvey im Fachjournal "Evolutionary Anthropology". Solche vorverdauten Pflanzen könnten nicht nur zusätzliche Kalorien zum Fleisch und Fett der erlegten Tiere liefern, sondern auch die ansonsten spärlichen Kohlenhydrate ergänzen.

Keine Geschlechtertrennung bei der Jagd

Garvey rechnete in ihrer Arbeit vor, dass ein Bison mit dem Fleisch und dem Inhalt seiner Mägen den gesamten Nahrungsbedarf eines Stammes von 25 Menschen mindestens drei Tage lang decken konnte. Die Hypothese würde nach ihrer Ansicht auch die Annahme untermauern, dass es keineswegs eine strenge geschlechtsspezifische Trennung bei der Nahrungsbeschaffung gibt, also dass Männer für die Proteine und Frauen für die Kohlenhydrate zuständig waren.

"Im Winter war es wohl sinnvoller, dass sich Frauen an der Jagd beteiligten, als mühsam nach pflanzlicher Kost zu suchen", sagte Garvey. Dafür liegen mittlerweile auch archäologische Belege vor: Gegen Ende der letzten Eiszeit wurden Frauen in Amerika häufig mit Jagdwaffen beigesetzt. Aufgrund dieser Befunde könnte ein Drittel bis die Hälfte der Großwildjäger Frauen gewesen sein.

Steinerne Speerspitzen für das Erlegen von Bisons aus Nordamerika. Wahrscheinlich beteiligten sich auch Frauen an der Jagd auf große Beutetiere.
Foto: University of Michigan

Zeit für andere Aktivitäten

Wahrscheinlich bildete der Mageninhalt von Wiederkäuern nicht die einzige Quelle wichtiger Makronährstoffe für eine Gruppe, meinte Garvey. Aber selbst wenn diese Quelle nur einen Teil des Kohlenhydratbedarfs deckte, könnte sie die Notwendigkeit zur Suche nach Pflanzen verringert haben, wodurch wiederum mehr Zeit und Energie für andere Aktivitäten zur Verfügung standen.

"Dass diese unterschätzte Ressource bislang nicht berücksichtigt wurde, wirkt sich auch auf Studien aus, die sich mit wichtigen Fragen der evolutionären Anthropologie befassen", so Garvey. "Stellt man diese zusätzliche Kohlenhydrat- und Kalorienquelle in Rechnung, kommt man zu anderen Ergebnissen bei der Entwicklung von Modellen zur prähistorischen Nahrungssuche." (tberg, 27.4.2023)