Die Situation im Video wirkt bedrohlich: In einem kleinen Schlauchboot nähern sich Journalisten auf offenem Meer einem russischen Forschungsschiff. Die Journalisten wissen, dass dies das Boot ist, vor dem sie gewarnt wurden. Langsam umrunden sie das rund 80 Meter lange Schiff, filmen Antennen und Ausrüstung an Bord. Dann wandert die Kamera das Schiff herauf: Ein schwerbewaffneter Mann in Kampfmontur starrt zurück, eine vermummte Gestalt filmt das Schlauchboot. Ängstlich flüsternd beratschlagen sie, was zu tun ist. Dann drehen sie ab.

Das Video ist Teil einer großangelegten Recherche der öffentlich-rechtlichen Sender Dänemarks (DR), Norwegens (NRK), Schwedens (SVT) und Finnlands (Yle) zu russischen Spionageaktivitäten. Die skandinavischen Journalisten enttarnten in einer dreiteiligen Dokumentationsserie mit dem Titel "Schattenkrieg" mehrere mutmaßliche russische Spione und enthüllten, dass Russland offenbar mithilfe von Forschungsschiffen in der Ost- und der Nordsee nach Schwachstellen westlicher Infrastruktur – und damit möglichen Angriffszielen – sucht: bei Offshorewindparks, Strom- und Internetkabeln – oder Pipelines.

Als sich die Journalisten der "Admiral Vladimirsky" nähern, erscheint ein schwerbewaffneter Mann an Deck.
Foto: Morten Krüger/ Graphic Design Torsten Høgh Rasmussen (DR/ Putins Shadow War)

Dies ist nach der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines am 26. September 2022 besonders brisant. Noch immer läuft die Suche nach den Drahtziehern. Zu den Verdächtigen gehört auch das russische Militär. Die Recherchen des skandinavischen Rechercheteams, die der SPIEGEL, das ZDF, die Schweizer Tamedia-Gruppe sowie DER STANDARD exklusiv vorab einsehen konnten, zeigen nun: Auffällig viele russische Schiffe hielten sich in den Monaten vor den Explosionen in der Nähe der Röhren auf – teils sogar offenbar direkt über der späteren Explosionsstelle.

Die neuen Erkenntnisse stammen von einem Mann, der jahrelang die russische Ostseeflotte im Dienst britischer Militärs und Geheimdienste überwachte. Seit seiner Pensionierung 2018 führt der Mann, der, um seine Person zu schützen, hier James heißen soll, seine Arbeit von seiner Wohnküche aus weiter. Fast täglich setzt er seine Kopfhörer auf und schaltet durch Funkfrequenzen, schneidet Funksprüche, Koordinaten und Codenamen mit. Etliche Informationen, die James gesammelt und mit dem skandinavischen Journalistenteam geteilt hat, könnten auch den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines betreffen – Satellitenaufnahmen und hinzugezogene Marine-Experten bestätigten die Plausibilität der gesammelten Daten.

Ex-Geheimdienstler "James" beim Abhören russischer Marinekommunikation.
Foto: Morten Krüger/ Graphic Design Torsten Høgh Rasmussen (DR/ Putins Shadow War)

Dark Ships: Geheime Vorbereitung?

Die Mitschnitte von James beginnen am 6. Juni 2022. Ein in Fachkreisen sogenanntes Dark Ship, ein Schiff, das die automatische Positionsübertragung AIS ausgeschaltet hat, legt vom Hafen der russischen Kriegsmarine bei der Enklave Kaliningrad ab. Einen Tag später erreicht das Geisterschiff die Gewässer in der Umgebung der Pipeline Nord Stream 2. Einige Stunden später meldet es per Funk mehrere Positionen in der Nähe der späteren Explosionsorte.

Foto: Morten Krüger/ Graphic Design Torsten Høgh Rasmussen (DR/ Putins Shadow War)

Wie nah das Schiff den späteren Explosionsstellen kommt, ist aufgrund der wenigen Positionsmeldungen nicht zweifelsfrei zu belegen. Klar ist aber: Während der insgesamt drei Stunden, die sich das Schiff am 7. Juni 2022 in der Umgebung aufhält, hätte es laut der gemeldeten Geschwindigkeit und Berechnungen des Rechercheteams den späteren Tatort erreichen und sich dort längere Zeit aufhalten können.

Forschungsschiff spezialisiert auf Unterwasseroperationen

Nachdem das unbekannte Schiff abdreht und wieder Kurs auf Kaliningrad nimmt, taucht laut den abgefangenen Signalen wenige Tage später im selben Gebiet ein zweites russisches Schiff mit wiederum ausgeschaltetem Transponder auf: die Sibirjakow. Das russische Forschungsschiff ist in der Lage, eigene Unterwasserfahrzeuge einzusetzen, und war laut den Aufzeichnungen von James gerade erst im Dienst der russischen Marine unterwegs: Es hatte ein neugebautes russisches U-Boot bei einer Testfahrt begleitet.

Das Forschungsschiff Sibirjakow in seinem russischen Heimathafen am 30. Mai 2022, kurz vor Beginn der von "James" beobachteten Mission.
Foto: WorldView © Maxar 2022

Das Schiff kommuniziert laut James' Aufzeichnungen zudem mit einem nicht identifizierbaren Schiff, das ebenfalls in der Nähe operiert.

Zwischen dem 14. und 15. Juni 2022 kreuzt die Sibirjakow, wie zuvor das unbekannte Geisterschiff, mehrfach in der Nähe der späteren Explosionsstellen. Laut dem Ex-Geheimdienstler James ist sowohl Funk- als auch Fahrverhalten des Forschungsschiffs auffällig. "Ungewöhnlich und sehr verdächtig" nennt der Marineanalytiker und Experte für Kriegsführung auf dem Meeresgrund H.I. Sutton dies, denn das Schiff operiere in diesem Gebiet üblicherweise nicht. Hinzu komme, so Sutton, dass die Sibirjakow durch ihre Ausstattung besonders geeignet sei, Unterwasserdrohnen zu steuern und sie Sprengsätze anbringen zu lassen.

Satellitenaufnahmen bestätigen Positionsdaten

Die Beobachtungen von James werden durch Untersuchungen des norwegischen Unternehmens KSAT untermauert: Mehrere radargestützte Satellitenaufnahmen, die Objekte auch durch Wolkendecken erfassen können, zeigen verdächtige Schiffe entlang der von James rekonstruierten Route. Eines ist an den fraglichen Tagen rund drei Kilometer von der späteren Explosionsstelle zu sehen, ein anderes hält sich genau darüber auf. Die russische Regierung ließ eine Anfrage des STANDARD unbeantwortet.

Satellitenaufnahmen und grafische Darstellung der zwei Dark Ships nahe der späteren Explosionsorte Anfang Juni 2022.
Foto: Morten Krüger/ Graphic Design Torsten Høgh Rasmussen (DR/ Putins Shadow War)

Bereits im März 2023 hatte das deutsche Onlineportal "T-Online" über zwei verdächtige russische Geisterschiffe in unmittelbarer Nähe der Explosionsstellen von Nord Stream 1 und 2 berichtet. Unter Verweis auf Sicherheitskreise heißt es, ein Verband der russischen Marine habe "wenige Tage vor den Explosionen unter strenger Abschirmung im Bereich des späteren Tatorts operiert". Diese Informationen decken sich mit den Aufzeichnungen des Ex-Geheimdienstlers James.

Ein Patrouillenboot der dänischen Marine, so heißt es in der Berichterstattung von "T-Online" weiter, habe am Abend des 21. September 2022 um 19.50 Uhr überraschend Kurs auf den späteren Tatort südöstlich der dänischen Insel Bornholm genommen und den Verband bei der Heimreise angetroffen. Kurze Zeit später nahmen schwedische See- und Luftstreitkräfte die Verfolgung des russischen Verbandes auf. Ziel des Verbandes: Kaliningrad.

Während Enthüllungen des Rechercheteams seltene Einblicke in russischen Spionage- und Sabotageaktivitäten im baltischen Raum geben, ist die Theorie zur russischen Beteiligung an der Zerstörung von Nord Stream 1 und 2 in westlichen Geheimdienstkreisen umstritten. Als weiterhin wichtigere Spur gilt das in Deutschland gecharterte Segelschiff Andromeda, auf dem Experten des Bundeskriminalamts im Jänner Sprengstoffrückstände fanden, die dem Sprengstoff, der bei Nord Stream zum Einsatz gekommen ist, gleichen sollen. Mehrere Ukrainer mit gefälschten Pässen sollen es angemietet haben. Manche Beobachter halten es allerdings für möglich, dass die Andromeda-Spur eine bewusst falsch gelegte Fährte ist. Andere trauen den russischen Geheimkommandos eine derart komplexe Strategie nicht zu.

Seit vergangener Woche scheint bei dem Nord-Stream-Rätsel noch mehr in Bewegung zu kommen: Wie die dänische Tageszeitung "Information" vergangenen Donnerstag berichtete, konnte die dänische Marine wenige Tage vor den Explosionen Fotos von einem russischen Schiff machen, das sich in der Nähe aufhielt. Es handelt sich um die SS-750, ein Spezialschiff für Unterwassereinsätze mit einem Mini-U-Boot an Bord. (Ruben Schaar, 3.5.2023)