Ausgerechnet das idyllische Saratoga, ein von grünen Hügeln und Wäldern geprägter Landstrich am Hudson River nahe dem heutigen New York, war 1777 Schauplatz einer der folgenschwersten militärischen Entscheidungen der Geschichte. Der britische Feldherr John Burgoyne hatte dort ein gewaltiges Heer zusammengezogen: 10.000 königliche Rotröcke sollten den Unabhängigkeitswillen der kurz zuvor gegründeten USA ein für alle Mal brechen.

Militärstratege Philipp Eder erklärt im Video, ob sich der Start der angekündigten Offensive bereits abzeichnet
DER STANDARD

Daraus wurde freilich nichts: Dank ihres strategischen Geschicks gelang es den militärisch eigentlich unterlegenen Amerikanern, Burgoynes Truppen eine verheerende Niederlage zuzufügen. Frankreichs König Ludwig XVI., der die Rebellen schon zuvor unterstützt hatte, eilte der amerikanischen Kontinentalarmee nach deren Etappensieg mit frischen Truppen zu Hilfe, später auch Spanien. 1783 musste Großbritannien die USA im Frieden von Paris endgültig in die Unabhängigkeit entlassen. Historikerinnen und Historiker sprechen seither vom "Saratoga-Moment", wenn sie einen Wendepunkt in einem Krieg beschreiben.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drängt auf einen raschen Beginn der Frühlingsoffensive.
Foto: Ukrainian presidential press service / AFP

Die Gunst der Alliierten

Fast 250 Jahre später ist es die Ukraine, die im Abwehrkampf gegen die russische Invasion einen solchen Saratoga-Moment dringend braucht. Anstatt – so wie einst die siegreichen Amerikaner – auf Musketen, Bajonette und Kanonen kann Kiew heute auf ein langsam, aber stetig wachsendes Arsenal westlicher Waffensysteme zurückgreifen. War es früher der Pariser Hof, von dem Wohl und Weh der jungen Nation militärisch abhingen, sind es heute die Nato-Staaten, auf deren Gunst Kiew angewiesen ist – allen voran jene der USA. 230 Panzer und mehr als 1.550 gepanzerte Fahrzeuge wurden der Nato zufolge in den vergangenen Monaten geliefert, darunter dutzende der in Kiew besonders begehrten Leopard-Kampfpanzer sowie Bradley-Schützenpanzer aus den USA.

Damit der Westen weiterhin Waffen – womöglich bald auch Kampfflugzeuge – schickt, muss die Ukraine nun aber besser heute als morgen Erfolge liefern. Nach der Abwehr der russischen Invasoren vor den Toren Kiews überbrachte der Westen der ukrainischen Armee moderne Artilleriesysteme, der Befreiung Chersons folgten mit ein paar Monaten Abstand Kampfpanzer. Und was kommt jetzt? Am Mittwoch erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj während seines Besuchs in Helsinki, dass die Ukraine nach ihrer Frühlingsoffensive "sicher" Kampfjets bekommen werde.

"Die Ukraine muss in diesem Krieg immer wieder zeigen, dass die Unterstützung, die sie aus dem Westen bekommt, nicht vergebens ist", sagt Franz-Stefan Gady, Militäranalyst am Institute for International Strategic Studies (IISS) in London.

Scheitern verboten

Tatsächlich wird seit Wochen über den nahenden Beginn der ukrainischen Frühlingsoffensive spekuliert. Kürzlich erklärte Verteidigungsminister Olexij Resnikow die Vorbereitungen der ukrainischen Armee jedenfalls als so gut wie abgeschlossen. Selenskyj sagte in Finnland, er hoffe auf einen baldigen Start der Offensive. Freilich: Mit jedem Tag, der vergeht, steigt der Druck auf Kiew, aus Worten Taten werden zu lassen. Ein Scheitern seiner Offensive ist so gut wie verboten.

Doch worum verzögert sie sich? Und was könnten Kiews Strategen planen? DER STANDARD hat Fachleute um Einschätzung gebeten.

Propaganda stellt sich auf Angriff ein

"Grundsätzlich wird die Offensive dann beginnen, wenn sich die Ukraine dazu bereit fühlt", sagt Gady. Noch dürfte es nicht so weit sein. Die Propagandaabteilungen hüben wie drüben schießen freilich schon jetzt aus allen Rohren. Am vergangenen Wochenende bekannte sich die ukrainische Armee in einem ungewöhnlichen Schritt zu einem Angriff auf ein Treibstofflager auf der besetzten Krim – mit Verweis auf "die großangelegte Offensive, auf die alle warten." Vorwürfe aus Moskau, wonach sie auch hinter dem angeblichen Drohnenangriff auf den Kreml am Mittwoch steckt, dementierte die Ukraine freilich.

Während man sich in Moskau offiziell betont gelassen gibt, ließ Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnerbande Wagner, mit der Warnung aufhorchen, wonach Kiews Offensive für Russland zur "Tragödie" werden könnte. Am Mittwoch sagte er schließlich, der ukrainische Großangriff habe seiner Meinung nach "bereits begonnen." Beweise blieb er freilich schuldig.

Verteidigungsminister Olexij Resnikow sieht die ukrainische Armee gut gerüstet.
Foto: Sebastian Gollnow/Pool Photo via AP

Tatsächlich warten die politischen und militärischen Befehlshaber in Kiew aber wohl noch etwas zu mit dem Marschbefehl, gerade weil die Ukraine den Erfolg so dringend braucht, glaubt Gady: "Je länger die ukrainische Armee Zeit hat, ihre Soldaten auf den gelieferten Waffen einzuschulen und zusätzliche Munitionsreserven anzuschaffen, desto besser sind ihre Chancen."

Die Ukraine habe vermutlich schlicht noch nicht genügend Munition und schweres Gerät, das es braucht, um die Offensive zu beginnen und großräumig Territorium zurückzuerobern, sagt hingegen der Russlandexperte Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Im Bereich der Artillerie etwa herrscht nach wie vor ein veritables Ungleichgewicht: Die russische Armee verschießt laut Zahlen der EU-Kommission jeden Tag zehnmal so viele Granaten wie die Ukraine. Bis die westlichen Lieferzusagen eingelöst werden, dürften aber noch einige Monate vergehen – Zeit, die man in Kiew nicht hat.

Angriffsort unklar

"Dass die Ukraine ihre Offensive im Gebiet Cherson oder rund um Bachmut beginnt, halte ich für wenig wahrscheinlich. Eher dürfte man versuchen, im Süden in Richtung Melitopol vorzustoßen, um dann zu versuchen, die russische Landverbindung zwischen der Krim und dem Donbass zu unterbrechen", sagt Graef. Auch im nördlichen Donbass in der Oblast Luhansk sei ein Angriff denkbar. Freilich: "Wir wissen nicht, wie der Charakter dieser Offensive sein wird, ob sie also an einem Frontabschnitt stattfindet oder ob die Ukraine an verschiedenen Orten kleinere Vorstöße plant", sagt Militäranalyst Gady. Auch wenn Moskau sich seit vergangenem Herbst auf eine ukrainische Gegenoffensive vorbereitet, steht für ihn fest: "Je höher das taktische Überraschungsmoment, desto größer sind die Erfolgsaussichten."

Doch wie könnte ein Erfolg der Ukraine angesichts der mancherorts im Westen hohen Erwartungen überhaupt definiert werden? "Eine Gefangennahme größerer russischer Verbände oder eine signifikante Verschiebung der Front im Süden, die dann Ausgangspunkt für weitere Offensiven in der Zukunft sein könnte, wäre so ein Erfolg", sagt Gady. "Ein strategischer Sieg wäre aber auch, wenn sich der Westen am Ende der Offensive darin bestätigt sieht, die Ukraine langfristig zu unterstützen."

Ukrainische Soldaten wurden etwa in Spanien an Leopard-Panzern ausgebildet.
Foto: OSCAR DEL POZO / AFP

Massive Befestigungsanlagen

Beide Experten sind sich einig, dass es für die Ukraine schwer wird, die russischen Stellungen samt Sperren, Minenfeldern und Panzergräben entlang der 950 Kilometer langen Front nachhaltig zu überwinden. Zuvor wurde bekannt, dass Moskaus Truppen ihre Befestigungsanlagen auf der Krim, aber auch im umkämpften Donbass und rund um das Atomkraftwerk Saporischschja aus Angst vor einer massiven Gegenoffensive jüngst noch einmal massiv ausgebaut haben.

"Die Ukraine hatte bei den bisherigen Offensiven nie das Problem, die ersten Verteidigungslinien zu durchbrechen. Schwierig wurde es erst danach, weil sie nicht genügend Reserven hatte, um in die Lücken nachzustoßen", sagt IISS-Analyst Gady. Ob es mit den neuen, vom Westen gelieferten Waffen besser gehe, bleibe abzuwarten. "Die Frage ist, ob der qualitative Vorteil der westlichen Waffen den quantitativen Vorteil der Russen ausgleichen kann oder nicht."

Horrorszenario

Doch was kommt danach? "Entscheidend wird sein, wie der Westen politisch reagiert. Gelingt die Offensive nicht, wird das in der Ukraine aber auch Auswirkung auf die Moral im eigenen Land haben", sagt Alexander Graef vom Hamburger ISFH: "Ich könnte mir auch vorstellen, dass dann im Spätsommer in westlichen Staaten der Druck steigt, mögliche Verhandlungsoptionen zu prüfen."

Für die Ukraine, die sich nun seit bald 15 Monaten gegen die russische Aggression wehrt, kommt dies einem Horrorszenario gleich. Denn selbst wenn die Waffenlieferungen, die Militäranalyst Gady "die Lebenslinie der Ukraine" nennt, irgendwann doch versiegen, etwa weil der Westen beschließt, dass Kiew das teure Kriegsgerät nicht in militärische Erfolge zu übersetzen versteht: Der Krieg wird wohl auch dann weitergehen. "Die Chance, dass eine der beiden Seiten in näherer Zukunft eine vernichtende Niederlage erleidet, ist zwar gegeben, aber sehr gering", sagt Gady. Die Offensive, die jetzt kommt, wird auch deshalb kaum die letzte sein. Wann immer Kiews Armee losschlägt: Ein Saratoga-Moment ist vorerst nicht in Sicht. (Florian Niederndorfer, 4.5.2023)