Marion Krammer, Andreas Nierhaus, Margarethe Szeless: "Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole". Residenz-Verlag, Wien 2023, 256 Seiten. Fotografien von Nora Schoeller.

Cover: Residenz Verlag

Sie prägen das Wiener Stadtbild so sehr, dass man glauben könnte, sie waren immer schon da. Doch die gründerzeitlichen Wiener Zinshäuser, von denen hier die Rede ist, entstanden erst ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, als man sich in der Stadt nach jahrzehntelangen Diskussionen dazu entschlossen hatte, die alte Stadtmauer abzureißen und stattdessen die Ringstraße anzulegen. Entlang dieser, und natürlich auch in diversen weiteren Stadterweiterungsgebieten, entstanden die vielen Tausend Mietshäuser, die heute den meist preisgedeckelten Altbestand des Wiener Wohnungsmarkts darstellen, deren Bau damals aber in den allermeisten Fällen rein renditeorientierte Überlegungen zugrunde lagen.

Die erste Wiener Bauordnung von 1829 schrieb eine Mauerstärke von mindestens 62 Zentimetern für das oberste (!) Stockwerk vor, nach unten hin kamen je Etage 16 Zentimeter dazu.
Foto: Putschögl

All dies lässt sich ausführlich, wissenschaftlich fundiert und reich bebildert in dem neuen Band "Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole" nachlesen, das soeben im Residenz-Verlag erschienen ist. In Auftrag gegeben wurde das Buch vom Bauträger 3Si, dessen Kerngeschäft die Revitalisierung alter Zinshäuser ist, in Kooperation mit der Fogarassy Privatstiftung. Für 3SI-Geschäftsführer Michael Schmidt war es "seit langer Zeit ein großes Anliegen, eine Publikation in Auftrag zu geben, die sich auf hohem wissenschaftlichen Niveau mit dem Objekt Zinshaus auseinandersetzt und es dabei in leicht verständlicher, erzählerischer Weise in seiner Vielfalt präsentiert", wie er sagt.

Die große Macht der Hausbesitzer

Der Auftraggeber des Werks verspricht nicht zu viel, denn das Autorenteam Marion Krammer, Andreas Nierhaus und Margarethe Szeless, alle drei mit kunsthistorischer Ausbildung, hat sich tatsächlich sehr viel Mühe gegeben, die Fülle an Informationen, die das Werk bietet, in kleinen Häppchen aufzubereiten und dabei auch, wo nötig, ziemlich tief ins Detail zu gehen. In acht Kapiteln und einem Epilog wird kaum ein Aspekt ausgelassen.

So wird etwa auch dem "Spekulantentum" ein ganzes Kapitel gewidmet: Dessen Grundlagen wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen, als ein "moderner kapitalistischer Wohnungsmarkt" entstand. Und das private Zinshaus ließ dann auch den Typus des Wiener Hausherren entstehen. "Die Macht der Wiener Hausbesitzer:innen war groß und blieb es bis zur Einführung der ersten Mieterschutzverordnung im Jahr 1917", heißt es im Buch.

"Ein Kaiser in seinem kleinen Reiche"

Um dies zu untermauern, wird Adolf Glaßbrenner zitiert, ein Wien-Besucher in den 1830er-Jahren: "Vor einem Hausherrn bückt sich der Wiener viel tiefer als vor einem Baron, denn so ein Mann, der zu Ostern und Michaeli von Stiege zu Stiege steigt und den Zins fordert, ist ein Kaiser in seinem kleinen Reiche." Denn zu ebenjener Zeit änderte sich die Art und Weise, wie in Wien gewohnt wurde, fundamental: Davor waren Wienerinnen und Wiener meist auch die Besitzerinnen der Häuser, in denen sie lebten. Doch mit dem starken Wachstum der Stadt entstand zunehmend auch ein privater Mietwohnungsmarkt.

Erste große Miethäuser waren zwar auch schon im 18. Jahrhundert errichtet worden, allerdings meist von Klöstern. Ab dem 19. Jahrhundert blühte das private Geschäft mit dem Wohnen. Und "mit der Revolution im Jahr 1848 und dem damit einhergehenden Ende der Grundherrschaft kam zunehmend Bewegung in den Markt", schreibt Marion Krammer, die dieses Kapitel erarbeitet hat.

Ludwig Förster, Architekt aus Bayreuth

Über die Anfänge, die bauliche Entwicklung sowie die Vorbilder für das Wiener Zinshaus, die Pariser Miethäuser, wird gleich im allerersten Kapitel berichtet. Der aus Bayreuth stammende Architekt Ludwig Förster, später übrigens Schwiegervater von Theophil Hansen, kam 1818 nach Wien und gründete hier zunächst eine Artistisch-Litographische Anstalt, später die "Allgemeine Bauzeitung". In dieser machte er "das Publikum mit den neuesten internationalen Entwicklungen im Bereich des städtischen Wohnbaus bekannt", wie Nierhaus in diesem Kapitel schreibt.

Ab den frühen 1840er-Jahren errichtete Förster dann auch selbst eine Reihe an Wohnhäusern, "die er als Muster einer neuen, großstädtischen Architektur begriff und die die Pariser Vorbilder an Solidität und Großzügigkeit übertreffen sollten". Doch Förster haderte mit der schlechten Qualität der Wiener Ziegel und mit der besonders strengen Wiener Bauordnung von 1829.

Dicke Mauern und der "Pariser Rost"

Diese erste Wiener Bauordnung schrieb beispielsweise eine Mauerstärke von mindestens 62 Zentimetern für das oberste (!) Stockwerk vor, und nach unten hin kamen je Etage 16 Zentimeter dazu. Das sorgte für entsprechend dicke Wände im Erdgeschoß von oft mehr als einem Meter. Erst 1859 wurden die Vorschriften für die oberste Mauerstärke auf mindestens 47 Zentimeter reduziert. Kurz zuvor, um 1850 herum, kam immerhin auch eine neue Bauweise für die Erdgeschoße in Mode, um dort größere Auslagen für die dort vorgesehenen Geschäfte schaffen zu können: der sogenannte Pariser Rost, Pfeiler aus Ziegel oder Gusseisen, auf denen mit Eisen bewehrte Unterzüge ruhten. Sie wurden 1849 vom Schlosser Ignaz Gridl in der "Allgemeinen Bauzeitung" vorgestellt "und fanden rasch Verbreitung", wie Nierhaus schreibt.

Bis zur erwähnten Bauordnung von 1859 musste übrigens jedes Haus in Wien mit einem Brunnen versehen werden. Viele weitere bautechnisch interessante Details erfährt man in dem Buch, das auch zahlreiche Grundrisse von bedeutenden Wiener Zinshäusern enthält – etwa vom Zinshaus Döblergasse 4, geplant von Otto Wagner.

Fotoateliers unterm Dach

Margarethe Szeless schreibt im letzten Kapitel außerdem darüber, was sich auf den Dächern der Zinshäuser so abspielt beziehungsweise abgespielt hat. Wobei die Bauordnung von 1829 die Schaffung von "Boden- und Dachzimmern" streng untersagte; erst hundert Jahre später wurden Dachwohnungen ausdrücklich genehmigt. "Dennoch wurden in der Wiener Wohnstatistik des Jahres 1902 in allen Bezirken insgesamt 658 Mietparteien im Dachgeschoß erfasst, in zusätzlichen 56 Fällen wurde der Dachraum bewohnt und zugleich für gewerbliche Zwecke genützt", schreibt Szeless. Man hat die Bauvorschriften also schon damals nicht nach Punkt und Beistrich befolgt. Vor allem Fotografinnen und Fotografen richteten in den Dachgeschoßen gerne ihre Ateliers ein.

Apropos Fotografie: Nora Schoeller steuerte für das Buch aktuelle Aufnahmen bei, darüber hinaus machen zahlreiche Darstellungen historischer Zinshäuser und Zinshausdetails das Buch auch zu einem Augenschmaus zum Schmökern und Staunen. In einem Epilog werden auch die Entwicklungen ab 1918, als das Zeitalter des Zinshauses ein jähes Ende fand, sowie die jüngsten Ereignisse rund um Abbrüche von Zinshäusern thematisiert. Und auch in diesem Zusammenhang wird ganz zum Schluss der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass das Buch "zur Wertschätzung dieses für Wien so charakteristischen Gebäudetyps" namens Zinshaus beitragen möge. (Martin Putschögl, 6.5.2023)