Augenhöhe heißt nicht, dass alle gleich sind oder das Gleiche können. Aber sie schafft freie Sicht auf die Differenz, die Vielfalt.
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Wir sind ein Team. Niemand ist Chefin oder Chef. Wir diskutieren so lange, bis wir Konsens finden. Damit werden wir allen gerecht und finden die beste, fairste Lösung. Klar, was sonst. Und die Erde ist eine Scheibe.

Es reicht. Wenn die Transformation auch in den Unternehmen und Organisationen gelingen soll, dann hängt das in erster Linie davon ab, wie wir mit der Wirklichkeit umgehen. Das hat mit dem, was Sie weiter oben gelesen haben, nichts zu tun. Das sind Textbausteine der Verniedlichung von Hierarchien und Entscheidungsebenen. Wir hören und lesen sie aber Tag für Tag. In Firmenbroschüren. Sonntagsreden der Geschäftsführung. Selbstdarstellungen von Unternehmen. Und in sozialen Netzwerken wie Linkedin, das geradezu ein Reagenzglas für unverbindliche Nettigkeiten im Arbeitsalltag geworden ist.

Alle können das Gleiche

Niemand braucht Führung, das klingt super. Aber es sagt, wie hier, ja vor allen Dingen etwas ganz anderes: Sei bloß nett zu mir! Verlange nicht, dass ich mich anstrenge! Demokratie ist, wenn alle tun, was sie wollen, und nicht, was der Chef sagt. Und wir sind alle irgendwie gleich. Auf Augenhöhe.

Man muss das nur oft genug wiederholen, so lange, bis die, denen das auf die Nerven geht, weil sie wirklich was arbeiten müssen, den Raum verlassen. Das erklärt einiges über den Zustand von Unternehmen, in denen alle das Gleiche können, weil sowieso nichts gefordert wird. Unterschiede im Können, in den Fertigkeiten, zwischen den Talenten, also alles, was echte Diversity ausmacht, und nicht nur diese hohle Vorstellung, die heute davon verbreitet wird – das alles spielt dort keine Rolle mehr. Die Leute sind, wie Gunter Dueck es mal schrieb, "schwarmdumm", weil Expertise nicht zählt.

Dumme Phrase

In einer Wissensgesellschaft oder einer, die sich dafür hält, ist das so ziemlich das Dümmste, was geht. Auf Augenhöhe – diese Phrase bedeutet, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Kenntnissen und Talenten auch untereinander so erkennen. Augenhöhe ist keine Gleichmacherei, kein Durchstreicheln ohne Kritik, kein Kuschelteam, in dem Selbstbestimmung als Selbstgerechtigkeit missverstanden wird. Augenhöhe schafft freie Sicht auf Differenz, auf Diversität – was ja nichts anderes heißt als Vielfalt. Dieses Unterscheiden gilt natürlich auch für die Rollen in der Organisation selbst. Doch auch diesbezüglich herrscht Fachkräftemangel.

Ein putziges Kerlchen ist das Wiesel, bis es unvermittelt zubeißt.
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Augenhöhe heißt noch lange nicht, dass wir alle das Gleiche können. Oder es auch nur sollen. Wer das glaubt, macht die Augenhöhe zum Wieselwort und schafft sich eine Wieselwelt. Ein Wieselwort ist so biegsam und heimtückisch wie das Tier, das ihm seinen Namen gab. Ein putziges Kerlchen, das alle liebhaben, bis es ihnen unvermittelt die Kehle durchbeißt. Das Wiesel fälscht ab.

An aktiver Teilhabe hapert es

Die, die heute davon reden, dass wir alle gleich sind, die keine Hierarchien brauchen und die Unterschiedslosigkeit predigen, tun das auch. Für sie alle ist Teilhabe selbstverständlich, nur mit der aktiven Teilnahme hapert es. Es werden große Forderungen aufgestellt, aber wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen und damit auch Verantwortung zu übernehmen, dann sind die Fordernden plötzlich nicht mehr im Raum.

Dann gilt das Prinzip: Du bist doch der Chef! Mach! Das haben die Leute in der politischen Praxis, in unserer überholungsbedürftigen Kultur, so gelernt; wer Demokratie als Bedürfnisanstalt in eigener Sache missversteht, bei der man nur verlangen muss und die, die nicht sofort spuren, wegwählt, der macht das auch in der Firma so. Wer nicht gelernt hat, dass zur Selbstbestimmung und Freiheit auch die Selbstverantwortung gehört, also das Mittragen von Risiken, wenn etwas schiefgeht, der läuft in der Politik wie im Unternehmen jenen Populisten nach, die ohnehin schon überall das Sagen haben.

Alte Hierarchien sind überholt

Chefs und Chefinnen – Merz und Qualtinger lächeln – sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Das ist im Grunde ja auch gut so. Die alte Hierarchie kann niemand mehr brauchen. Wissensarbeitende, das sind heute immer mehr, wissen über ihre Arbeit mehr als ihre Chefs, hat Peter Drucker gesagt. Fachkräfte brauchen eine andere Führung als Untergebene.
Das alte "Du machst gefälligst, was ich dir sage, und basta" wird ersetzt durch ein "Du machst, was du für richtig hältst in dieser Situation und was du verantworten kannst". Den ersten Teil des Satzes lieben alle. Es geht aber darum, den zweiten, den mit der Verantwortung, ernst zu nehmen. Das ist ein tiefgreifender Kulturwandel, und wir sollten nicht so tun, als ob es so einfach wäre, eine Alternative zum alten Parieren oder dem neuen Simulieren von Verantwortung zu finden. Das ist harte Arbeit für alle. Auch und vielleicht vor allem für die Vorgesetzten selbst.

"Wir sind alle ein Team und haben uns alle lieb" – geht das überhaupt?
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Denn die wollen, mehr als je zuvor, beliebt sein bei "ihren Leuten", wenn nicht sogar geliebt werden. Gut dazustehen ist geradezu ein Konsumartikel geworden. Dafür wollen viele nach oben. Doch so läuft das nicht. Ansehen, Respekt, die persönlichen Bedürfnisse, die der Sozialpsychologe Abraham Maslow zu Recht als Grundlage der gesellschaftlichen Transformation erkannte, sie müssen verdient werden. Erarbeitet.

Strukturelle Klarheit darf nicht fehlen

Das heißt: Jeder hat klare Freiräume und klare Verantwortungen. Und nicht nur Wieselwörter sichern das ab, sondern faire, transparente Deals. Die fehlen immer öfter. An ihre Stelle tritt freundliches Geschwätz. Selbst in Konzernen darf die Sachbearbeiterin den CEO duzen, der zwar das Hundertfache verdient, aber so tut, als wäre er auf Augenhöhe mit der Kollegin, die in ihrem Job keine Spielräume für eigene Entscheidungen hat. Wir sind alle ein Team – und ganz schön verlogen, was?

Dagegen wirken die alten Hierarchien a là "Wer zahlt, schafft an, wer angestellt ist, kann jederzeit auch ausgestellt werden" geradezu ehrlich und offen. Da wusste wenigstens jeder, wo sein Platz war, niemand wieselte um die Wirklichkeit herum.
Niemand will diesen Zustand zurück. Aber damit es nicht durch die Hintertür wieder so wird, braucht es Realitätssinn. Demokratie in Unternehmen, das geht, wenn Selbstverantwortung und Selbstbestimmung Hand in Hand gehen. Das wäre auch für die Gesellschaft als Ganzes dringend nötig. Die schlimmste Lüge ist der Selbstbetrug.

Also, Kinder, ganz ehrlich: Werdet endlich erwachsen! (Wolf Lotter, 6.5.2023)