Im Nachkriegsösterreich wurde das Gedenken zentral nach Mauthausen verlegt. Die Schauplätze der Nazi-Gräuel in St. Georgen und Langenstein schienen Jahrzehnte auf der Gedenklandkarte kaum auf. Was sich nun ändern soll.

FOTOKERSCHI/SIMON BRANDSTÄTTER

Langenstein – Der schmale Weg führt vorbei an schmucken Einfamilienhäusern. In den Gärten wird an diesem, heute noch so raren, lauen Frühlingabend noch fleißig gearbeitet. Da brummen die Rasenmäher, dort dröhnt der Kärcher und irgendwo dazwischen bekommt eine Tujenhecke ihren Sommerschnitt verpasst. Die Topografie des Terrors ist heute eine ländliche Idylle. Nichts deutet auf den ersten Blick darauf hin, dass dieser Boden blutgetränkt ist. Und doch lebt man in der kleinen Mühlviertler Marktgemeinde St. Georgen an der Gusen und dem Nachbarort Langenstein auf geschichtlich schwer belastetem Terrain.

Enormer Blutzoll

Zentrale Teile des ehemaligen KZs Gusen befanden sich dort, wo heute Wohnsiedlungen stehen. Und mit deutlicher Verspätung und erst auf massiven diplomatischen Druck hin hat hier das Gedenken an die tausenden Opfer der NS-Mordmaschinerie begonnen. Es ist ein Ort, der sinnbildlich für den Umgang Österreichs mit den dunkelsten Kapiteln der eigenen Geschichte steht: verdrängen, vergessen – sprichwörtlich Gras über die Sache wachsen lassen. Im Ort gibt es aktuell zwar eine Gedenkstätte, die aber dem Grauen nicht gerecht wird.

Allein im KZ Gusen wurden 71.000 Menschen aus fast 30 Nationen gefangengehalten. Sie mussten dort unter enormem Blutzoll eine unterirdische Stollenanlage errichten, in der die Nazis unter dem Decknamen "Bergkristall" eine geheime Rüstungsproduktion betrieben. Mehr als die Hälfte überlebte die Haft nicht.

Breite Beteiligung an neuem Gedenken

Doch die Zeiten des Wegschauens scheinen nun endgültig vorbei. Mit dem Ankauf zentraler Teile des ehemaligen Lagers – des Appellplatzes, des Schotterbrechers und zweier SS-Verwaltungsgebäude – machte sich die Republik 2021 auf den Weg, ihrer historischen Verantwortung nachzukommen.

Aktuell läuft ein großer Beteiligungsprozesses zur Erweiterung der KZ-Gedenkstätte Gusen. Mit einem großen Ziel: Das Gedenken neu zu denken. "Es soll ein Ort der internationalen Verständigung und der nationalen Verantwortung werden", erläutert Barbara Glück, Direktorin der Gedenkstätte Mauthausen.

Rückkehr an den Ort des Grauens

Am Donnerstagabend, dem Vorabend des 78. Jahrestags der Befreiung, wurden dann zum zweiten Mal auch ganz offiziell die Scheinwerfer auf das dunkle Kapitel österreichischer Zeitgeschichte gerichtet. Auf dem ehemaligen Appellplatz fand sich die versammelte Staatsspitze zu einem offiziellen Gedenken ein.

Für manche war es der erste Besuch am Ort der einstigen "Hölle aller Höllen", wie Überlebende das Lager Gusen II nannten. Für einen war es eine tief emotionale Rückkehr an einen Ort, an dem er unfassbares Grauen Erfahren musste. Stanislaw Zalewski (97), der 545 Tage hier gefangen war. Er war im Warschauer Ghetto im Widerstand gewesen und wurde zuerst nach Auschwitz gebracht, danach nach Gusen, wo er im Steinbruch und im Stollensystem arbeiten musste. Nach der Befreiung durch die Amerikaner am 5. Mai 1945 wurde Zalewski zwischenzeitlich in die US-Armee aufgenommen. Heim nach Warschau ging er schließlich zu Fuß, 78 Tage lang.

Wie er den Umgang mit dem ehemaligen KZ-Areal, auf dem heute teilweise Wohnhäuser stehen, bewertet? Er sei kein Richter, meint er, aber als er 38 Jahre nach der Befreiung mit seinem Sohn – zum ersten Mal – wieder hierherkam, habe diese gesagt:" Wo ist der Stollen?". Jeder, der in eine Gedenkstätte kommt, solle sich nach einer gewissen Zeit so fühlen, als wäre er selbst Insasse. Deshalb solle auch die Infrastruktur so bleiben, wie sie zur Zeit des Lager-Betriebes gewesen sei, und es solle vor Ort geforscht werden. Sein Wunsch für Gusen: Es solle "resistent gegen die Winde der Geschichte" werden.

Politische Unterstützung

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) versprach dann in seiner Ansprache, dass "die Unterstützung der Bundesregierung sichergestellt ist". Nehammer: "Antisemitismus, Rassismus, Totalitarismus, Diktatur, Abschaffung der Meinungsfreiheit und Abschaffung der Demokratie führen zu dem, was wir hier sehen." Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) betonte zudem, dass "die laufende Neugestaltung der Gedenkstätte Gusen einen Ort der Erinnerung und der Begegnung für die nächsten Generationen ermöglichen soll".

Mit dem Einsetzen der Dunkelheit startete dann vor dem Eingang in des einstigen NS-Stollensystems "Bergkristall" – auch hier hat die Republik Areale erworben – die Licht- und Klanginstallation #eachnamematters. Die Namen von Zehntausenden Opfern des KZ-Systems Mauthausen-Gusen wurden breitflächig projiziert, während sie gleichzeitig zu hören waren. Die Installation wird auch in den Folgetagen, am 5. Mai, dem Tag der Befreiung, und am 6. Mai von 21 Uhr bis 23 Uhr vor dem "Bergkristall"-Stollen zu sehen sein. (Markus Rohrhofer, 5.5.2023)