Seine Romanfigur, ein Schriftsteller, hat nicht vor, "das traurigste Buch des Jahres zu verfassen": Arnold Stadler.

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Arnold Stadler wird nächstes Jahr 70 – genauso alt ist auch der Ich-Erzähler A. St. im Roman. Er war einmal blond, jetzt ist er grau und das, was man einen weißen alten Mann nennt. Ein Makel, der in der woken Gesellschaft von heute kaum noch zu überbieten ist. Dass Stadlers Alter Ego bzw. er selbst Schriftsteller ist, nützt nicht viel: Bei einer Lesung im Schloss Sayn zum Thema "Heimat – Europa – Welt" kann er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das kulturbeflissene Publikum lieber Greta Thunberg vor sich hätte. Als er dann auch noch auf eine Zuschauerfrage zum Klimawandel unbedacht antwortet, ist die Katastrophe perfekt.

Aber was heißt eigentlich Katastrophe? Nur weil eine Frau – sie ist sogar zehn Jahre älter als er – plötzlich energisch aufschreit: "Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!"? Für den Erzähler jedenfalls Grund genug, zu "erröten", sich gar bis ans Lebensende zu schämen. Schließlich, wird ihm vorgeworfen, sei es auch seine Schuld, in den letzten fünfzig Jahren nichts unternommen zu haben, um das Klima zu retten.

Entlarvende Kritik

Im Übrigen handelt Stadlers vorletztes Buch von einer Reise zum Kilimandscharo, mit großem ökologischem Fußabdruck also. Entsprechend wird der Roman (Am siebten Tag flog ich zurück) auch mehrmals in diesem Kontext zitiert. Und auf Schloss Sayn war Stadler im Mai 2019 tatsächlich zu einem Gespräch über Heimat geladen und hat dort aus dem damals noch unveröffentlichten Roman gelesen.

Doch was nun eins zu eins autobiografisch oder bloß autofiktional ist, bleibt unerheblich: Stadlers Roman geht über die Selbstbespiegelung weit hinaus und wird stellenweise zur entlarvenden Kritik an einer Gesellschaft, die sich verwundert fragt: "Wann genau ist aus Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll eigentlich Laktoseintoleranz und Veganismus und Helene Fischer geworden?"

Fünfzig plus

Tja, was ist da nur schiefgegangen, dass etwa das Wort "Dame" aus dem Sprachschatz gestrichen wurde, dafür bei jeder Gelegenheit "lecker" gesagt wird? Oder dass Lady Gaga auf ihrem Körper ein Rilke-Gedicht tätowiert hat? Aber "tätowiert" sagt man doch nicht mehr, nur noch die "fünfzig plus" wissen das nicht, dass es längst "stechen" heißt. Der nächste Fauxpas. So ginge es weiter. Mittlerweile wird einem ja überall unverblümt zu verstehen gegeben, wie sehr man aus der Mode gekommen oder aus der Zeit gefallen ist.

Der größte Fehler des alten weißen Mannes A. St. aber ist, dass er immer noch "ich" sagt, anstatt sich längst in der Anonymität seiner zivilisatorischen Schuldigkeit zu verstecken. Wäre es also besser, auch die "Schreibarbeiten" einzustellen?

Es ist der Albtraum eines Dichters, wenn eine Lesung solcherart zum Desaster wird. Da hilft nur noch die Flucht ans Meer! Griechenland, die Insel Lefkada, in einem Haus mit Blick auf Ithaka. Dort will er eigentlich an einem neuen Buch weiterschreiben. Freilich: "Ich hatte nicht vor, das traurigste Buch des Jahres zu verfassen." Aber das wäre dann wohl dem Zustand dieser Welt geschuldet.

Satirischer Ernst

Wer ist der alte weiße Mann, der immer noch "ich" sagt? "Ich war bestenfalls eine Romanfigur", heißt es ziemlich am Ende, und "auch nur einer von ihnen (...), die kamen und gingen". Die Romanfigur ist aber auch der Autor selbst, der sich fragen muss, warum er überhaupt noch schreibt. "Ich schreibe für jene", würde er gerne antworten, "die bei einem Krimi von Donna Leon einschlafen!" Aber das rettet das Klima ja auch nicht. Und zum anderen: "es wäre auch keine Schande gewesen, nicht geschrieben zu haben und im Bett zu sterben".

Arnold Stadler, "Irgendwo. Aber am Meer". Roman. € 24,70 / 224 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2023
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Stadler versteht es, Tiefsinniges in scheinbarer Leichtigkeit zu erzählen und ohne markigen Plot eine hinreißende Geschichte aufs Papier zu bringen. Das gelingt hier mit satirischem Ernst und ganz ohne einen Anflug von Verbitterung über das Apodiktische einer selbstgefälligen Political-Correctness-Gesellschaft, die sich die Deutungshoheit über so ziemlich alles angeeignet hat. Man kann dem Autor nicht vorwerfen, er würde deren Anliegen nicht ernst nehmen, vielmehr macht er sich über sich selbst lustig, weil er den Ansprüchen der Wokeness nicht genügen kann.

Rückspiegelschmerz

Wie schon im Roman davor blitzt viel Autobiografisches durch, die eigene Familiengeschichte neben Reflexionen über den gegenwärtigen Krieg, die Armut und, eben, die Klimakrise beziehungsweise die Reaktionen darauf. Das alles verdichtet im "Rückspiegelschmerz über sein Leben", wenn sich der Erzähler fragt, warum es nicht so geworden ist, wie er sich das vorgestellt hat. Und apropos Alter: Beim Signieren nach der Lesung auf Schloss Sayn sagt eine Besucherin zu ihm: "Sie sind aber alt geworden!" Sie meint: im Vergleich zum Foto in seinem Buch ...

Ja, alter weißer Mann, was nun? Besser mit Lesungen aufhören, die ohnehin kaum noch jemanden interessieren? Immer wieder muss er sich sagen lassen, der Vorverkauf gehe "schleppend", und bitte: "Keineswegs sollten Sie länger als fünfzehn bis zwanzig Minuten lesen. Mehr geht heute nicht mehr." Dann bleibt nur noch die Reise nach Irgendwo, Hauptsache ans Meer. Denn dort wird ihm bewusst, "dass es nichts Schöneres gab, als da zu sein und zu leben". (Gerhard Zeillinger, 6.5.2023)