Verschollene Liebe und das Wissen um den richtigen Lebensstil: Bestseller-Autor Martin Suter.

Foto: Christian Fischer

Ein Name als Lockvogel und Titelverführung. Wer ist Melody? Zunächst: ein verführerisch schönes Zauberwesen. Dann: ein leibhaftiges Rätsel. Und schließlich, dank Martin Suters gleichnamigem Roman: eine jener geheimnisvollen Frauenfiguren, die immer wieder einmal ihr Heimatrecht in der schönen Literatur anmelden.

Nur portionenweise lüftet der Autor im Roman Melodys Geheimnis: durch Porträtbilder in einem Altherrenhaus irgendwo in der Höhe des Zürichbergs, wo die Villen der Reichen stehen. Durch kunstvolle Stickereien von der Hand der längst Verschollenen. Und durch Erzählungen eines alten Mannes gegenüber seinem Anwalt.

Ungünstiges vernichten

Der alte Mann heißt Dr. Peter Stotz und war in seinem erfolgreichen Leben vieles gleichzeitig: Nationalrat, Unternehmensberater, Offizier, kunstsinniges Mitglied im Vorstand des Opernhauses. Nur verheiratet war er nie. Denn kurz vor der Hochzeit ist ihm die Braut abhandengekommen.

Jetzt ist der 84-Jährige hinfällig und moribund und hat sich für ein fürstliches Honorar den jungen Juristen Tom Elmer engagiert, der die Dokumente sortieren und seinen Nachlass ordnen soll. Alles, was auf eine ungünstige Vergangenheit schließen lässt, soll in dieser "Geschichtsgewichtung" vernichtet werden.

Vermisste Braut

Aber das Wichtigste im Leben des reichen Dr. Stotz war seine große, einzige Liebe. Von ihr redet er beim abendlichen Cognac-Umtrunk mit dem juristischen Adlatus unausgesetzt. Man erfährt: In einer Zürcher Buchhandlung war Stotz als bereits arrivierter Mann auf die Marokkanerin Melody getroffen.

Es war eine Begegnung, die alles verändert hat. Denn auch die junge Frau verliebte sich in ihn, war indes heftig an ihre muslimische Familie gebunden, die für die Tochter längst eine Heirat mit einem marokkanischen Ehemann vorbestimmt hatte. In schwieriger Ablöse entschied sich Melody für die Heirat mit Stotz und wurde dafür prompt von ihren strenggläubigen Eltern verstoßen. Eine großartige Hochzeit sollte in Zürich stattfinden. Für das Brautkleid war man eigens nach Paris geflogen, wo Melody nach der letzten Anprobe endlich ihre bisherige Zurückhaltung aufgab und das einzige Mal mit ihrem Verlobten schlief.

Doch danach war sie plötzlich verschwunden. Blieb unauffindbar, obwohl Stotz alle Hebel in Bewegung setzte, sie zu finden. Vermutet wurde eine Entführung durch den marokkanischen Bruder, der Melody mit schweren Vorwürfen konfrontiert hatte.

Martin Suter, "Melody". Roman.€ 26,80 / 336 Seiten. Diogenes-Verlag, Zürich 2023

Geschichtsgewichtung

Stotz blieb als Verlassener zurück und ließ sich dafür fortan als tragischer Liebesheld betrauern. Indes, als er stirbt, bleibt der Erbe Tom Elmer hartnäckig und sucht zusammen mit der Großnichte des Alt-Nationalrats der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die birgt eine veritable Überraschung und stellt tatsächlich eine neuartige "Geschichtsgewichtung" dar.

Hochfliegende literarische Ansprüche muss man bei der Lektüre zurückstecken. Von Beginn an durchzieht den Roman die unbestimmte Vermutung eines Verlusts. Auf diese Vorausdeutung wird konsequent gesetzt. Der Erzählstoff wird aufgefädelt wie am Schnürchen. Aber das Schnürchen bleibt bis zum Ende straff gespannt.

Neureichenliteratur

Martin Suter stellt als ehemaliger Werbemann gern sein Wissen um den Lebensstil der Reichen aus. Glamourös werden die jeweiligen Schauplätze in Paris, Singapur oder St. Moritz inszeniert. Und ohne Verherrlichung des Kochens kommt man heute ohnehin kaum mehr davon.

In prahlerischer Detailfreude werden daher dem Leser fortwährend die Gerichte aufgetischt, die Tom Elmer im Haushalt Stotz von der sardischen Köchin Mariella verabreicht werden: "Brasato mit kleinen Kartoffeln". "Coniglio alla sarda". "Catalogna con Mozzarella di Bufala". Ein im Anhang zitiertes Kochbuch darf als Grundlage für das angelesene Gourmetwissen herhalten. Auch die Alkoholika müssen vom Feinsten sein und werden entsprechend beschrieben: "Der Cognac war weich und rund und duftete nach einer kostbaren Antiquität." In diesen Teilen präsentiert sich Suters Roman als protzige Neureichenliteratur.

Die schönsten Geschichten handeln schon immer von der Amour fou. Die Geschichte von der verschollenen Schönheit Melody liest sich süffig und spannungsreich. Das ist immerhin etwas und garantiert vom Start weg den prompt eingetretenen Bestsellererfolg.

Eine Schweizer Lebenserfahrung bekommt man ohne einen Rappen Aufpreis auch mit auf den Weg: "Viel Geld haben ist ein Beruf." (Oliver vom Hove, 7.5.2023)