"Heimat ist das, was ständig verlorengeht. Ich meinte das nicht im Bloch’schen Sinne, sondern ganz konkret.": Andreas Maier

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Ich bin nicht geblieben. Meine Heimat war eine mittelgroße Kreisstadt nördlich von Frankfurt. Die Region heißt Wetterau. Zumindest behaupte ich das immer als meine Herkunft. Aber vielleicht ist das in mehrerlei Hinsicht nicht ganz so eindeutig. Wo bin ich nicht geblieben? Was hieße bleiben?

Phil Lynott, Sänger und Bassist der Band Thin Lizzy, gab einmal Folgendes zu Protokoll: Die Antwort auf die Frage, wo er herstamme, hänge davon ab, wer die Frage stelle. Um das auf meine Wetterauer Verhältnisse zu übertragen, würden dementsprechend (Lynott stammte, grob gesagt, aus Dublin) meine Antworten folgendermaßen lauten: Im Ausland sage ich, ich stamme aus Deutschland. Einem Deutschen sage ich, ich bin Hesse. Einem Hessen gebe ich zur Antwort, ich komme aus der Wetterau. Einem Wetterauer: Ich bin Friedberger. Einem Friedberger würde ich erklären, ich stamme aus dem Barbaraviertel. Einem Barbaraviertler wiederum, ich bin im Mühlweg aufgewachsen. Und im Mühlweg würde ich die Antwort geben: Ich bin ein Maier.

Am Stadtrand

Aufgewachsen bin ich am Stadtrand. Auf unserer Seite wird das Städtchen auf natürliche Weise durch einen Flusslauf begrenzt. Unter meinem Jugendzimmerfenster verlief die Usa, dahinter kamen nur noch Schrebergärten und ein Zuckerrübenacker.

Augenscheinlich bin ich also, geografisch gesehen, hauptsächlich dort nicht geblieben. Ich schätze das Haus bis heute, mehr noch, ich halte es nach wie vor für den mir eigentlich einzig angemessenen Lebensort auf der Welt, vermutlich durch Prägung und Gewöhnung, aber irgendwann wird man älter, zieht aus, und später fällt die ganze Sache sowieso den Erbschaftsstreitigkeiten zum Opfer. Die Sache selbst "bleibt" also in gewisser Weise ebenfalls nicht, aber dazu später mehr. Meine Wege haben mich nach Frankfurt, Südtirol und Hamburg geführt, fast zehn Jahre auch in das Haus meiner verstorbenen Großmutter in Bad Nauheim, das ist nur drei Kilometer von Friedberg entfernt.

Ortsgebundenheit

Mit meiner Antwort (s. o.), ich sei ein "hessischer" "Deutscher" aus "Friedberg in der Wetterau" und stamme dort aus dem "Haus Maier" im "Mühlweg" im "Barbaraviertel", einem übrigens erst 1969/70 gebauten Haus (also nach meiner Geburt), einem Ort, an dem ich am liebsten immer geblieben wäre, bin ich aber ebenfalls nicht ganz zufrieden. In Wahrheit ist mein Aufwachsen an meinem Aufwachsens-Ort mit Familien verknüpft, die teils gar nicht ortsgebunden waren.

Die mütterliche Seite "stammt" ein paar Generationen vor mir unter anderem aus dem Vogelsberg (auch dieses "stammen" dürfte zu eindimensional gedacht sein, in Wahrheit wird es auch in diesem Zweig mehrerlei Migrationsbewegungen gegeben haben) und kam nach Friedberg, als das neue Deutsche Reich sich nach 1870/71 an den riesigen französischen Reparationsgeldern satt aß und eine Welle der Verstädterung stattfand, wir nennen das bei uns Gründerjahre.

Bin ein Maier mit "ai"

Die väterliche Seite ist noch etwas disparater. Mein Großvater stammt aus einem Dorf auf der Schwäbischen Alb, seine Frau, wenn ich es recht verstanden habe, aus Frankfurt, irgendwer hatte da wohl auch niederländischen Einschlag. Da sind also in meiner Familie nicht gerade viele "geblieben", quer durch einen Teil von Westeuropa, und meine Herkunft vom liebgewonnenen Usa-Ufer entpuppt sich als die eines typischen Siedlerkindes, also als reine Durchgangsstufe. Allein durch meine Eltern bin ich mindestens halber Wetterauer, ein Viertel Frankfurter und ein Viertel Schwabe. Deshalb übrigens bin ich ein Maier mit "ai". Als Hesse wäre ich eher ein "ei".

Ein alter Automat, gefüllt mit Kaugummi und Kinderspielzeug, an einer Hauswand in der hessischen Region Wetterau, in der Andreas Maier Kindheit und Jugend verbrachte.
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Wäre ich nun also "geblieben", was wäre der Bleibens-Ort gewesen? Bad Nauheim, wo meine Großmutter herkam? Friedberg, die Stadt, in die sie eingeheiratet hat? Das damals moderne Einfamilienhaus im Mühlweg, das sowieso keinerlei Geschichte hat, die vor mich reicht? Meine Großmutter ist nach dem Krieg nur deshalb nach Friedberg gezogen, weil die US-amerikanische Armee das Haus beschlagnahmt hatte. Nach zwölf Jahren wurde es zurückgegeben (daher erlebte meine Mutter Elvis Presley noch als Straßennachbarn). Deshalb habe ich ebenfalls einen großen Bezug zu diesem Haus in Bad Nauheim. Lange nachdem ich aus meinem Elternhaus weggegangen bin, wohnte ich noch einmal jene zehn Jahre im Haus meiner Großmutter, in dem ich als Zweijähriger auch schon mal gewohnt ... Usw. usw. Man kann ewig fortfahren. Wo bist du her, wo gehst du hin, wo bleibst du stehen, wo gehst du wieder weg? Es ist eine unabschließbare Abfolge.

Das Großmutterhaus

Bei mir wäre jedes Bleiben am Ort, dem Heimatort, dem Herkunftshaus oder dem Großmutterhaus, die mehr oder minder zufällige, individuelle und vielleicht sogar ästhetizistische Entscheidung eines Menschen gewesen, der zu seinem Herkunftsort überdies deutlich weniger Bezug und Verbindung hat als andere dortige Familien, deren Mitglieder wenigstens in den letzten zwei Generationen aus dem Umfeld von Nachbargemeinden kommen, aber nicht aus Schwaben oder den Niederlanden.

Um es auf die oberste Spitze zu treiben: Diese meine Herkunftsverhältnisse, topologisch und genealogisch, treffen sowieso nur exakt auf drei Menschen zu, nämlich auf meine beiden älteren Geschwister und mich. Das wäre der letzte Unterschied, wenn man so etwas wie Herkunft festlegen will, bei der man bleibt oder nicht: Wir sind in unterschiedlichen Zimmern aufgewachsen! Die ich übrigens in meinem Elternhaus auch immer als völlig unterschiedliche Welten erfahren habe. Was ist es nun, wo ich nicht geblieben bin? Die Antwort wäre vielleicht zuletzt: ein Zimmer, das ich 15 Jahre bewohnt habe.

Keine Spur von uns

Wir kamen her und haben das Vorgefundene genutzt, Arbeit gesucht, eine Firma gegründet, Häuser gebaut, und in wenigen Generationen wird sich keine Spur mehr von uns finden. Ich kenne, wie gesagt, ortsverbundenere Gegenbeispiele. Bei Friedberg gibt es ein 4000-Seelen-Dorf namens Ockstadt, und mittendrin, auch noch nahe bei der Dorfkirche, sozusagen schon in ihrem Schatten, findet sich die Familie Scharf. Migration auch hier natürlich, die Großeltern von Eva Scharf kommt aus Ungarn.

Die beiden Kinder, Niklas und Jonas, sind seit Geburt Ockstädter. Erich pendelt nach Frankfurt. In Ockstadt machen sie zusätzlich ein bisschen Landwirtschaft, hauptsächlich Obstbau. Sie keltern Apfelwein selbst und haben vor etwa zwanzig Jahren eine Straußwirtschaft eröffnet, die in der wärmeren Jahreshälfte an den Wochenenden geöffnet hat.

Die beiden Kinder, inzwischen knapp um die dreißig, haben keinerlei Interesse, Ockstadt zu verlassen, und wohnen ebenfalls im Schatten der Kirchtürme. Es ist ein bisschen ein Leben wie früher. Früher etwa aß öfter mein geburtsbehinderter Onkel bei uns zu Mittag, wenn er zufällig da war. Oder ich aß bei der Oma in Bad Nauheim. Die Scharf’schen Kinder, obgleich erwachsen und der eine sogar Koch, essen bei der Mutter, warum auch nicht, sie wohnen sowieso nur dreißig Meter auseinander.

Keinerlei Heimatkult

Der andere Sohn hat seit einiger Zeit die Lohnkelterei des Vaters übernommen. Man könnte sich unter dem Leben der Söhne etwas ganz anderes vorstellen, gleichsam zeitgemäßer, beide könnten längst in Berlin oder München leben oder in Singapur. Beide könnten ständige Flugreisen in alle Welt machen, wie es heutzutage üblich ist. Mal zwei Tage nach Barcelona. Beide könnten ihre Herkunft, das dörfliche Ockstadt, ganz fürchterlich finden. Übrigens betreiben sie keinerlei Heimatkult. Sie laufen nicht mit T-Shirts herum, auf denen "Ockstadt" oder "Wetterau" steht.

In Frankfurt, Hamburg und, sagen wir, Hannover ist das anderes, dort sieht man öfter Leute mit T-Shirts, auf denen "Frankfurt", "Hamburg" oder "Hannover" steht. Wahrscheinlich produziert überhaupt niemand "Ockstadt"-T-Shirts.

Die Familie Scharf würde ich mit dem Wort "Bleiben" verbinden. Es ist ein Bleiben, das auf unauffällige Weise sichtbar wird und tatsächlich die Region prägt, allein schon durch den Obstbau, den die Scharfs treiben, durch die Straußwirtschaft und die Lohnkelterei, was alles auf das Ockstädter Obst zurückgeht. Sie leben also, zumindest in gewissen Teilen, von der Region, indem sie sie kultivieren. Das machen viele Ockstädter. Die Ockstädter Kirschen sind berühmt, und der Kirschberg ist zur Blütezeit eine Besucherattraktion.

Auch in seinem vor einem Monat erschienenen, im Nachkriegsdeutschland – und in Wetterau – angesiedelten Roman "Die Heimat" (Suhrkamp Verlag, € 22,70 / 245 Seiten) setzt sich Andreas Maier mit dem Thema Herkunft, Veränderung und Fremdheit auseinander.
Foto: Verlag

Hinter der Kirche

Hinter der Kirche hört man an Wochenenden bereits von weitem die Hofgespräche und das Gläserklirren in der Wirtschaft, sie ist ein kleines Zentrum des Dorfes. In gewisser Weise "sind" also die Scharfs Ockstadt, und Ockstadt wäre ohne Familien wie die Scharf’sche nicht das, was es ist. Dazu kommt freilich, dass Ockstadt nicht unmittelbar an die S-Bahn nach Frankfurt angebunden ist und wohlhabend genug war, um nicht zu einer direkten Satellitenstadt von Frankfurt zu werden.

Andererseits ist Pendeln möglich, also musste niemand aus ökonomischen Gründen den Ort verlassen, was bei meinem Großvater von der Schwäbischen Alb und meinen Vogelsberger Vorfahren vermutlich anders war. Meine eigene Familie dagegen lebte in einem anonymen Neubauhaus am Stadtrand und prägte das Bild der Gemeinde in keiner Weise. Was man von uns mitbekam, war, wenn das Hoftor aufgeschoben wurde und man mit dem Dienstwagen nach Frankfurt fuhr. Im Grunde waren wir ein Fremdkörper auf Durchgangsstation.

Was ist eigentlich Heimat?

Einer der beiden Scharf-Söhne fragte mich einmal vor zehn Jahren: Was ist eigentlich Heimat? Er wusste, dass ich manchmal über diesen Begriff schrieb. Wir standen gerade mitten auf einer Streuobstwiese, lasen Äpfel, befüllten den Hänger und hatten einen Blick über die Felder auf Friedberg hinab. Heimat, sagte ich, indem ich mit pathetischer Geste über die Landschaft bis hin nach Friedberg wies, Heimat ist das, was ständig verlorengeht. (Ich meinte das nicht im Bloch’schen Sinne, sondern ganz konkret.)

Ich: Wenn meine Mutter früher von unserem Haus in Bad Nauheim loslief, es herrschte gerade der Nationalsozialismus, dann befand sie sich ein Haus weiter bereits am Ortsrand. Dann lief sie fünf Minuten übers Feld und kam zu dem großen Gradierwerk, das vor der Stadt lag, die Usa floss dort einsam durch die Landschaft Richtung Friedberg. Bis Friedberg war sie eine knappe halbe Stunde unterwegs, nur wieder Feld und Wiesen. Anschließend kam sie östlich an der Stadt vorbei, direkt unter dem Burghügel, wo eine kleine Gastwirtschaft stand, Zum Kühlen Grund.

Wachsendes Dorf

Dann ging es weiter, an einigen Schrebergärten vorbei, und wieder übers Feld, von wo man den Taunus und den Vogelsberg sehen konnte. Sicher wird sie dem ein oder anderen Spaziergänger begegnet sein. Auf der Straße zwischen Bad Nauheim und Friedberg so gut wie keine Autos, dafür Pferdefuhrwerke.

Wenn ich in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts vom Haus meiner Großmutter auf demselben Weg loslief, dann überquerte ich zunächst eine breite Straße, den Eleonorenring und spazierte durch ein Neubaugebiet mit Schule und Feuerwehr, der einstmals solitäre Gradierbau lag nun schon innerhalb der Stadt, auf der Straße sah man immer eine Handvoll Autos, und Richtung Friedberg wurde gerade das große Hallen- und Freibad gebaut. In Friedberg wurde man wiederum von einem Neubaugebiet empfangen, das unterhalb der Burg entstanden war. Dasselbe geschah in Ockstadt: Das Dorf wuchs am Promenadenweg Friedberg entgegen.

Schau zurück!

Wenn du heute denselben Weg gehst, ist vor den Gradierbau und das Schwimmbad eine riesige Klinik gelagert, dahinter musst du unter der neuen Ortsumgehung durch, die dir die Sicht nach Friedberg blockiert, rechts liegt nun ebenfalls ein Neubaugebiet, das größte seiner Art in Friedberg, du kommst über zahllose neue Straßen, verirrst dich sofort, wenn du das zum ersten Mal zu kapieren versuchst, wirst plötzlich auf ein Feldfragment ausgespuckt, von dem aus du sogar Ockstadt sehen kannst, mit den markanten zwei Kirchtürmen und dem Kirschberg daneben scheint es immer noch still und friedlich dazuliegen, aber schon bald gerätst du, wo vorher dein Weg war, auf Asphaltkreisel, die du nicht überqueren kannst, sondern du musst Umwege laufen, um auf eine der Brücken zu geraten, die über die Ortsumgehungsstraße führen. Da stehst du dann auf der Brücke, und unter dir fahren zahllose Autos mit hundert Stundenkilometern, umgeben von Erdwällen, linealgrade Schneisen in der Landschaft.

Schau nach Bad Nauheim zurück! Dort ziehen an der Eisenbahn bald die geplanten Lärmschutzwände aus der Stadt hinaus. Schau nach Schwalheim! Wird bald komplett hinter der Lärmschutzwand verschwunden sein. Friedberg wird in seinem Stadtkern, durch den die Eisenbahn führt, von der Mauer geteilt werden wie früher Berlin. Und kommst du nach Ockstadt, ist die Stadt dir auch schon wieder um hundert Meter entgegengerückt. Und das alles im Laufe eines Lebens. Meine Mutter ist 1935 geboren und hat völlig anderes erlebt. Bist du am selben Ort, wenn du 1935, 1970, 1995 oder 2020 geboren bist?

Der Scharf-Sohn sah mich kritisch und nachdenklich an.

Auch was die Zeit angeht und die Veränderungen, die sie zeitigt: Man kann ewig fortfahren. Wo warst du her, wo geht es hin, wo bleibt etwas stehen und wie lang, und wann geht es wieder weg?

Hm, machte der Scharf-Sohn. (Andreas Maier, 6.5.2023)