Kunsthistorikerin Stefania Pitscheider Soraperra mit ihrem Lieblingsbuch

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Sie wuchs im Gadertal südlich von Bruneck in den Dolomiten auf, "in einer hochtouristischen Zone mit all den Problemen, die das mit sich bringt. Es wird Raubbau an der Natur betrieben, Schneisen werden in den Wald geschlagen, ein Lift nach dem anderen wird gebaut." In all dem flüchtete sich das Kind gerne in die örtliche Sagenwelt rund um den Aufstieg und Fall des Murmeltierreichs Fanes, die Prinzessinnen Moltina und Dolasilla, den Zauberer Spina de Mul und den Helden Ey de Net. Oder in Erzählungen über die "ganes" und "salvans", die guten Waldmenschen. All diese Bücher las sie auf Ladinisch oder bekam sie in ihrer Muttersprache vorgelesen.

Mit elf Jahren ging sie ins deutschsprachige Internat nach Brixen, weil die Eltern darauf bestanden, dass sie und ihr Bruder neben Ladinisch und dem selbstverständlich gesprochenen Italienisch auch Deutsch lernen sollten. Nach der Matura zog sie nach Wien, und um diese Zeit herum muss sie auch zum ersten Mal Oriana Fallacis Brief an ein nie geborenes Kind gelesen haben: Kann/will ich als berufstätige Frau überhaupt ein Kind haben, fragt darin die Autorin. "Fallaci war ein Star in Italien. Sie hatte als Frau die halbe Welt bereist und darüber berichtet. Sie war bereits in sehr jungen Jahren zusammen mit ihrem Vater in der antifaschistischen Bewegung tätig gewesen. Sie hat keine Konflikte gescheut und sich als Feministin mit der Welt in Beziehung gesetzt." Gewiss war die kontroversiell besprochene Autorin Vorbild für die Heranwachsende. "Dass jemand Fragen nach Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit stellte, empfand ich als sehr prägend."

"Was glaubst du, wer ich bin? Bin ich dein Container?", spricht Fallaci ihr ungeborenes Kind im Buch direkt an, und sie fragt sich, wie verantwortungslos es überhaupt wäre, ein Kind in eine Welt zu setzen, die am Abgrund steht. "Sie muss sich nicht entscheiden, denn sie verliert das Kind. Eine Antwort zu finden auf die Frage, ob sie darüber trauern oder erleichtert sein soll, bleibt ihr jedoch nicht erspart." (Manfred Rebhandl, 6.5.2023)