Mit einfühlsamem Blick schaut Autor Robert Seethaler auf seine Figuren. Die Leser bedenkt der Chronist eines gemeinschaftsstiftenden Cafés in seinem neuen Buch derweil mit manch stammbuchhaften Perlen.

Foto: Urban Zintel

Die sogenannten kleinen Leute haben Robert Seethaler zu großem Erfolg geführt. Es begann 2006 mit Die Biene und der Kurt und einem musikalischen Roadtrip durch die Provinz. In Die weiteren Aussichten machte dann die Liebe eine Provinztankstelle vibrieren. In Jetzt wirds ernst wurde ein Friseursohn Schauspieler, in Der Trafikant kam ein Landbub 1937 nach Wien und gewann Sigmund Freud als väterlichen Freund. Vom Hilfsknecht zum Bergbahnangestellten brachte es Andreas in Ein ganzes Leben, voller Kleinstadtbiografien steckte Das Feld. Für Der letzte Satz wählte See thaler zuletzt erstmals einen privilegierten Helden, den Komponisten Gustav Mahler – doch ist selbst der ein "müde gewordener Arbeiter".

Man erkennt unschwer ein Muster im Werk des umgesattelt habenden ausgebildeten Schauspielers mit Wohnsitzen in Berlin und Wien und kann sagen, der Erfolg gibt ihm recht: Seine Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt, vom Trafikant hat er über eine Million Stück verkauft, fast alles aus seiner Feder wird verfilmt oder dramatisiert, 2016 war er sogar für den International Booker Prize nominiert.

Erfolgsrezept bleibt gleich

Natürlich ändert Seethaler in seinem neuesten Streich Das Café ohne Namen also nichts am literarischen Mechanismus. Wir schreiben das Jahr 1966, und Robert Simon (31) teilt sich eine Wohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk mit der Witwe Martha. Sein Vater ist aus dem Krieg nicht heimgekehrt, seine Mutter starb kurz darauf. Mit Fleiß und Freundlichkeit hat Robert sich aber die letzten Jahre über am Markt verdingt. Seine Arme sind von der Arbeit gezeichnet, dafür hat er schöne blaue Augen. Jetzt will er ein Café mit Wein und Schmalzbroten eröffnen. Der Standort Karmelitermarkt ist zwar noch eines der ärmsten, schmutzigsten Stadtviertel, aber die Wirtschaft zieht an, weiß Robert aus den Zeitungen, in die die Fischhändler ihre Donauforellen einwickeln.

Seethaler hat sich in der Tat eine spannende Epoche ausgesucht: Das Buch deckt etwa zehn Jahre ab, die erste U-Bahn wird gebaut werden, die Uno-City wird sich in Sichtweite von Kaisermühlen gen Himmel zu recken beginnen, Supermärkte werden Fleischern das Überleben schwermachen. Alles das interessiert Seethalers Figuren aber nur am Rande. Denn für sie ist in dieser neuen Zeit kaum mehr Platz.

Sie, das sind Originale. Etwa die Hilfsnäherin Mila Szabica, die ihre Eltern in der Südsteiermark zurückgelassen hat und "robust", fleißig und frei von jeder Vergnügungssucht als Kellnerin bei Robert anheuert. Oder René, ein Kartenverkäufer beim Autodrom und Ringer vom Heumarkt, der von den Preisgeldern in Amerika träumt. Treffpunkt ist das Café ebenso für eine Käsehändlerin, die mit einem russischen Maler in leidenschaftlicher Eifersucht zusammenlebt, einen stolzen und ehrlichen Säufer sowie für Frauen aus der Nachbarschaft mit geschwollenen Beinen: "Am Anfang hat mein Mann gerochen wie frisches Brot. Ich hab gedacht, das hält ewig. Ein fataler Irrglaube."

Schüchterne Männer

Seethaler tippt als nüchterner, aber wohlwollender Chronist seine Figuren teils nur alle paar Jahre an. Winter und Sommer ziehen vorbei, Robert führt einen Ruhetag ein, eine Heizkesselexplosion raubt ihm Finger, er verliebt sich in die falsche Frau. Schwangerschaften bereiten anderen Freud und Kummer, eine Fehlgeburt stellt eine Beziehung auf die Probe. Alte werden wunderlich und krank. Die Getragenheit dieses Panoramas mit viel Kolorit ist bittersüß. Das Scheitern des Lebens, Einsamkeit, nur momentweises Glück bilden sein Fundament. Darauf bewegen sich gewitzte, starke Frauen und sanfte, schüchterne Männer. Für Perlen wie "Sie fragte sich, ob es noch genug Sehnsucht in ihnen gab, um sich immer wieder daran aufzurichten" hat der Autor ein Faible.

Am Erzählaufwand gemessen, kratzt Seethaler nur an Oberflächen, und doch vernimmt man Echos aus einer Tiefe. Dieses sprachlich elegant hingetupfte Angebot zu Melancholie und Gerührtsein ist grundsympathisch. Seine Kehrseite ist aber immer wieder der Kitschverdacht. Wenn im letzten Kapitel Robert der Witwe schöne Lügen erzählt, um sie aufzuheitern, kommt einem denn auch zu viel Wohligkeit in Das Café ohne Namen genau so vor. (Michael Wurmitzer, 8.5.2023)