Der Neandertaler ist der nächste Verwandte in unserem Stammbaum. Wir stehen ihm genetisch so nahe, dass wir mit ihm gemeinsame Nachkommen hervorbrachten, als wir bis vor 40.000 Jahren noch Zeitgenossen waren. Erste genetische Belege für die interspezifischen Techtelmechtel lieferte 2010 ein Team um den schwedisch-deutschen Paläogenetiker Svante Pääbo. Die fruchtbaren Begegnungen durften zwar nicht zur Gewohnheit geworden sein, doch selbst die wenigen Gelegenheiten reichten aus, uns ein beträchtliches genetisches Neandertaler-Erbe von ein bis vier Prozent zu bescheren.

Psyche, Haut und Haare

Die Folgen dieses horizontalen Gentransfers wirken in vielfacher Weise bis heute nach: So zeigte sich etwa, dass moderne Frauen mit einer bestimmten Neandertaler-Genvariante im Schnitt kinderreicher sind. Neandertaler-DNA kommt in manchen Sequenzen vor, die die Immunabwehr steuern, sie kann bei Depressionen und Suchtverhalten eine Rolle spielen, hat aber auch manchen Menschen einen besseren Schutz gegen schwere Covid-19-Verläufe gewährt.

Auch unser Aussehen ist in einigen Fällen dem Neandertaler-Erbe zu verdanken. 2017 entdeckten Janet Kelso und ihre Kollegen vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie im menschlichen Genom DNA-Abschnitten mit Neandertaler-Herkunft, die den Hautton und die Haarfarbe steuern. Die vergleichende Analyse ergab dabei, dass einige Neandertaler-Varianten bei Haut und Haaren in Verbindung mit helleren Tönen stehen, andere mit dunkleren. Das könnten darauf hinweisen, dass Neandertaler unterschiedliche Haarfarben und Hauttöne hatten.

Schädel des modernen Menschen (links) und des Neandertalers, die Unterschiede in der Nasenhöhe zeigen.
Illustr.: Kaustubh Adhikari, UCL

Vorteilhafte Nasenhöhe

Und schließlich dürften bestimmte Genvarianten aus Neandertaler-Zeiten auch unsere Physiognomie beeinflussen – das untermauerte nun eine aktuelle Studie, die am Montag im Fachjournal "Communications Biology" veröffentlicht wurde: Ein Team um Kaustubh Adhikari vom University College London entdeckte eine Neandertaler-Gensequenz, die die Form unserer Nasen beeinflusst.

Konkret: Dieses Gen scheint bei ihren Trägerinnen und Trägern für eine höhere Nase zu sorgen – in kühleren Zeiten durchaus ein Vorteil. Daher vermutet das Team auch, dass diese Genvariante das Produkt einer natürlichen Selektion war, als sich die Menschen nach dem Verlassen Afrikas an kältere Klimazonen anpassten. "Wir haben damit festgestellt, dass ein Teil der von den Neandertalern geerbten DNA die Form unserer Gesichter beeinflusst", sagte Adhikari. "Dies könnte für unsere Vorfahren hilfreich gewesen sein, da es über Tausende von Generationen weitergegeben wurde.

Für den Abstand zwischen Nasenwurzel und Nasenspitze gibt es auch eine Neandertaler-Genvariante.
Foto/Illustr.: University College London

Suche in den Gendaten

Für ihre Suche nach genetischen Neandertale-Erbe nutzten die Forschenden DNA-Informationen von über 6.000 Freiwilligen aus ganz Lateinamerika mit gemischter europäischer, indigener und afrikanischer Abstammung. Diese Daten wurden zunächst mit Werten verglichen, die man aus der Vermessung von Fotos ihrer Gesichter gewann. Ziel war es, Zusammenhänge zwischen genetischen Markern und bestimmten Gesichtsmerkmalen zu finden. Das Ergebnis sind 33 Genomregionen, die mit der Gesichtsform in Verbindung stehen. 26 davon konnten bei Vergleichen mit Daten anderer Ethnien mit Teilnehmern aus Ostasien, Europa oder Afrika bestätigt werden.

In einer dieser Genomregionen wurde das Team schließlich fündig: Der für einen Aspekt der Nasenhöhe, also dem Abstand zwischen Nasenwurzel und Nasenspitze, zuständige DNA-Abschnitt namens ATF3 enthielt bei einigen Probandinnen und Probanden mit indigenen und ostasiatischen Wurzeln Varianten aus dem Neandertaler-Erbe. Außerdem entdeckten die Forschenden Anzeichen dafür, dass diese Genvarianten von natürlicher Selektion beeinflusst wurde – offenbar hatten die Träger diese Erbinformation für höhere Nasen einen Vorteil gegenüber den Kurznasen.

Besser gegen Kälte gewappnet

"Es wird seit langem spekuliert, dass die Form unserer Nasen durch natürliche Selektion bestimmt wird", sagte Studienautor Qing Li von der Fudan Universität in Shanghai. "Da unsere Nasen uns helfen, Temperatur und Feuchtigkeit der Atemluft zu regulieren, sind unterschiedlich geformte Nasen möglicherweise besser für die verschiedenen Klimazonen geeignet, in denen unsere Vorfahren lebten." Möglicherweise habe das nun identifizierte Gen der Neandertaler dem Menschen bei der Anpassung an kältere Klimazonen und -phasen geholfen, nachdem er aus Afrika ausgewandert war, vermutet das Team.

Es ist nicht der erste Beleg dafür, dass sich die Tête-à-Têtes von Homo sapiens mit anderen Spezies in einigen Gesichtern verewigt haben: Das Team um Kaustubh Adhikari entdeckte 2021 ein Gen, das wahrscheinlich aus Affären mit Denisova-Menschen resultierte und die Lippenform beeinflusst. (Thomas Bergmayr, 8.5.2023)