Liverpool ist keine Stadt, die sich herausputzt. Die Vergangenheit als von irischen Einwanderern geprägte Hafen- und Industriestadt macht den Charakter der Stadt aus. Die Scousers, wie sich die Liverpooler selbst nennen, sind stolz darauf, wie sich die Stadt aus den Krisen der Margaret-Thatcher-Jahre hinausmanövriert hat. Die Stadt ist heute lebendig, aus den Clubs und Pubs tönt Livemusik, und in den alten Lagerhallen an den Docks befinden sich Stätten für Kunst und Kultur. Die sozialen Verwerfungen der vergangenen Jahrzehnte sind dennoch spürbar und sichtbar.

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DER STANDARD

Die Krönungszeremonie in London am vergangenen Wochenende interessierte hier kaum jemanden. Denn der Eurovision Song Contest (ESC) ist in der Heimatstadt der Beatles angekommen. Darauf sind die Liverpooler stolz, und sie legen eine große Herzlichkeit und Gastfreundschaft an den Tag. Als ob man gerade jetzt zeigen möchte: Wir feiern hier Europa! Brexit und Krönung sind nicht unser Ale.

Erinnern Sie sich? Loreen gewann bereits 2012 den Song Contest, heuer tritt sie wieder für Schweden an – und gilt prompt als Favoritin.
Foto: AP

Ukrainische Kultur

Eigentlich hätte der heurige Song Contest in der Ukraine stattfinden sollen. Das Kalush Orchestra konnte die Ausgabe von 2022 in Turin für sich entscheiden. Doch der anhaltende Angriffskrieg Russlands verunmöglichte die Ukraine als Austragungsland der größten Musikshow der Welt.

Die Sicherheit der Fans und der Delegationen wäre nicht gewährleistet gewesen. In einem großen Auswahlprozess des verantwortlichen britischen öffentlich-rechtlichen Senders BBC setzte sich überraschend Liverpool gegen Glasgow und Manchester durch.

Gepunktet hat Liverpool vor allem mit einem großen Festival ukrainischer Kunst, das zeitgleich im öffentlichen Raum der Stadt stattfindet. Ukrainische Gedichte tauchen auf Tafeln in Parks auf, das Admiral-Nelson-Denkmal hinter dem Rathaus ist mit Sandsäcken verhüllt, in denen man Bildschirme mit ukrainischen TV-Musikshows entdecken kann.

Eurovision Song Contest

Mehr als schrille Performances

Die Nachtigall ist der Nationalvogel der Ukraine, und der ist als große aufblasbare Figur an mehreren Plätzen der Stadt als Grußbotschaft aus der Krim aufgestellt. Die Kathedrale der Stadt ist zugleich ein Videoschirm, auf der eine Zugreise quer durch die Ukraine zu sehen ist. Dieses Jahr gibt es einige Neuerungen beim Song Contest.

In den beiden Semifinal-Shows wurden die Jurys abgeschafft. Länder könnten insofern wieder zunehmend auf auffällige und schrille Performances statt auf zukunftsfähige Popmusik setzen. Exklusiven Content und Einblicke in das Probengeschehen gibt es heuer nur noch auf der chinesischen Social-Media-Plattform Tiktok, mit der die Europäische Rundfunkunion EBU einen Deal abgeschlossen hat. Medien sind in der ersten Woche ausgeschlossen worden, 14 Delegationen haben bereits dagegen protestiert.

Im zweiten Halbfinale bemühen sich Teya & Salena mit ihrem Lied Who the Hell is Edgar? um den Einzug ins Finale. Loreen ist die große Favoritin des Bewerbs und tritt im ersten Semifinale an. Sie gewann den ESC 2012 in Baku mit Euphoria und setzt erneut auf bewährten Schwedenpop. Ihr gefährlich werden könnte der Finne Käärijä, der in seinem Song Cha Cha Cha mit einer Mischung aus Rammstein, Rap und Schlager soziale Phobien beim Ausgehen und die Rolle von Alkohol besingt. Norwegens Alessandra setzt mit Queen of Kings auf bewährte Song-Contest-Muster. Die nordischen Länder präsentieren sich 2023 wieder stark und sind Song-Contest-begeistert wie eh und je.

Eurovision Song Contest

Kroatischer Feinripp in der Beatles-Stadt

Die kroatische Agitprop-Band Let 3, die seit 1987 auf dem Balkan für Furore sorgt, will sich mit ihrer Performance zum Song Mama ŠČ einprägen. Verstörend und politisch bis zur Unterhose will der Song gegen Kriegsverbrechen aufrütteln. Serbiens Luke Black inszeniert sich in einer dystopischen Gaming-Performance. Israels Noa Kirel setzt auf schnelle Beats und ein Dancefloor-Medley mit einer Tanzperformance, wie man sie jedes Jahr geboten bekommt.

Auffallend ist, dass dieses Jahr viele Rockbands antreten. Das hat einerseits mit den Beatles, andererseits mit der Weltkarriere der 2021-Sieger Måneskin zu tun. Ebenso auffällig: Die Zeiten, in denen die Hälfte der Songs aus schwedischer Feder stammten, dürften vorbei sein. Mit wenigen Ausnahmen setzen die teilnehmenden Länder auf Selbstverfasstes der Künstler.

Den Beatles am nächsten kommt der Song der aserbaidschanischen Zwillinge TuralTuranX. Tell Me More klingt wie ein gerade erst gefundener Song aus Paul McCartneys Schublade, der (zu Recht) nie auf einer Beatles-Platte erschienen ist. (Marco Schreuder aus Liverpool, 9.5.2023)