Nicht nur zum Ausleihen von Romanen und Krimis kommen Menschen in die Hauptbücherei.

Foto: Heribert CORN

Eine Frau mit gewelltem grauem Haar sitzt einem Mann mit Kurzhaarschnitt gegenüber. Auf einem Schachbrett zwischen ihnen sind weiße und schwarze Figuren über das Feld verteilt. An einem Donnerstagnachmittag im April findet im Eingangsbereich der Hauptbücherei der Büchereien Wien ein Schachcafé statt. Mehrere Tische stehen bereit, die Veranstaltung ist gut besucht. Ihr Gegenüber kennt die 67-Jährige, die öfter hier ist, dieses Mal. Sie spiele aber auch gern mit Unbekannten, "speziell wenn jemand daneben steht und sich nicht traut zu fragen". Die Frau rückt ihre Dame nach links. Ein paar Schritte weiter gibt es Zeitungen, ein älterer Herr kommt öfters, erzählt er bereitwillig – wie noch vieles mehr aus seinem Leben. Dahinter beginnen die Bücherregale. Weit unter den Stellagen grollt die U-Bahn, links und rechts des Gebäudes rauscht der Verkehr über mehrspurige Fahrbahnen des Gürtels.

Im April 2003 wurde die Wiener Hauptbücherei an ihrem neuen Standort eröffnet, davor war sie im achten Bezirk angesiedelt. Magdalena Schneider leitet die Bücherei seit August und erzählt in ihrem Büro über den U-Bahn-Gleisen, warum das Gebäude gerade hier, an der Grenze von siebentem und 15. Bezirk, errichtet wurde. Nämlich "auch mit der Idee, diese zwei Bezirke, die doch etwas konträr sind und damals noch konträrer waren, zu verbinden". Außerdem sei Prostitution im 15. Bezirk ein großes Thema gewesen. "Der Gürtel war damals kein begehrtes Pflaster", sagt die 37-Jährige. Auch deshalb habe man die Gegend wiederbeleben und als Statement eine öffentliche Bildungseinrichtung hersetzen wollen.

Magdalena Schneider leitet die Hauptbücherei am Gürtel.
Foto: Heribert CORN

An einem gewöhnlichen Donnerstag sind in der Hauptbücherei Menschen mit Fahrradhelm, Kopfhörern oder Kopftuch unterwegs. Vier Computer mit Internetanschluss sind speziell für Frauen reserviert, drei davon besetzt. In einem anderen Eck wird auf dem Boden ein Plakat gestaltet. Rucksack, Schuh und Federschachtel liegen verstreut daneben. Wieder etwas weiter sitzen junge Leute konzentriert an Tischen, von denen man einen Ausblick über die Dächer von Wien hat.

Neben Studierenden kommen auch viele Schülerinnen und Schüler hierher, sagt Schneider: "Sie finden schwer einen Ort in der Stadt, wo sie sich gemeinsam hinsetzen können, nichts bezahlen müssen und miteinander Hausaufgaben machen können." Bei den Entlehnungen gebe es Einbrüche bei Jugendlichen. Das zeigt, dass Entlehnzahlen nicht zwangsläufig widerspiegeln, wer die Bücherei nutzt. Auch wohnungslose Menschen halten sich laut Schneider oft hier auf. "Auch das gehört dazu, und auch für sie ist die Bücherei offen." Überhaupt sei es eine Funktion der Bücherei, "Menschen verschiedener Herkunft, verschiedenen Alters zusammenzubringen". Auch Deutsch-Konversationsrunden und ein Erzählcafé werden hier angeboten.

Plätze mit Ausblick.
Foto: Heribert CORN

Großes Angebot für Kinder

Victoria geht eine Regalreihe mit Kinderbüchern entlang. Sie schätzt die große Auswahl und die Lesungen für Kinder und ist etwa jede zweite Woche mit ihrem fast vierjährigen Sohn hier, wie sie erzählt. Mittlerweile auch, "weil er äußert, dass er herfahren möchte". Sie selbst war als Studentin schon hier, diesmal ist auch die Oma des Kindes dabei.

Geht es nach der Büchereileiterin, die selbst dreifache Mutter ist, könnte das Angebot für Kinder noch größer sein: "Wenn man heute die Bücherei neu bauen würde, wäre der Kinderbereich größer. Der Bestand im Kinderbuchbereich könnte doppelt so groß sein, der Raum auch. Das würde gut genutzt werden."

Mehr Angebot für Kinder würde nach Ansicht der Büchereileiterin gut genutzt werden.
Foto: Heribert CORN

Doch wie lang wird ein Ort für das Ausleihen gedruckter Bücher noch attraktiv sein? Während Schneider in manchen Bereichen davon ausgeht, dass physische Bücher weniger werden, ist sie auch davon überzeugt, dass diese nicht aussterben. "Wenn ich auf Reisen fahre, nehme ich mir meine fünf Romane lieber als E-Book mit", sagt sie. Allerdings: "Für Kinder sind gedruckte Bücher immer relevant – zum Beispiel um Sachthemen mit Kindern zu bearbeiten, Emotionen, Gefühle, Geschichten mit ihnen aufzuarbeiten und zu erleben. Das wird es immer geben."

Unterhaltsame Tweets

Die Hauptbücherei selbst hat einen Bestand von etwa 400.000 Medien. "Das hatten wir bei der Eröffnung, und das haben wir auch jetzt, weil nicht mehr Platz ist", sagt Schneider. Etwa zehn Prozent pro Jahr würden makuliert, genauso viel werde neu eingekauft. Ein gewisses Buch schaffte es auch über Umwege zurück nach Wien, obwohl es eigentlich schon ausgedient hatte. "Das Buch haben wir vor 20 Jahren aus unserem Bestand ausgeschieden – jetzt hat es eine nette Dame in Kroatien gefunden und uns per Post geschickt. Ich fürchte, wir müssen es in Säure auflösen, um es loszuwerden", twitterten die Büchereien Wien vor einiger Zeit.

Der Twitter-Account mit mehr als 23.000 Followern wird unter anderem von Monika Reitprecht betreut, die ihr Publikum mit Anekdoten aus dem Büchereialltag versorgt. Auf Facebook haben die Büchereien fast 70.000 Follower, ihre Postings versieht Reitprecht oft mit schlagfertigen Kommentaren, wie hier auf Facebook: "Antwort auf Mahnung: ‚Ich habe ein kleines Baby!!‘ Danke – aber es reicht, wenn Sie uns die Bücher und 1,20 Euro geben."

"Nicht fad und altmodisch"

Welches Image die 49-Jährige den Wiener Büchereien mit ihrem Social-Media-Auftritt auf Facebook und Twitter verpassen möchte? "Nicht fad und nicht altmodisch", sagt Reitprecht dem STANDARD. Viel mehr möchte sie vermitteln, dass es hier mehr gibt als Bücher und "dass die Leute, die hier arbeiten, nicht irgendwelche verschrobenen Sonderlinge sind, die nur streng schauen und pscht machen". Sie will die Bücherei als Ort darstellen, "wo man gerne hingeht und auch gerne bleibt". Reitprechts Postings und Tweets sind auch in Buchform erschienen. Irgendwo zwischen Romanen, Kochbüchern und Schallplatten ist auch ihr neuestes Buch Den Titel hab ich leider vergessen ... aber es ist blau zu finden – sofern es nicht verliehen ist.

Monika Reitprecht twittert für die Büchereien.
Foto: Heribert CORN

Wenn es darum geht, welche Bücher einen Platz bekommen, gilt es manchmal, schwierige Entscheidungen zu fällen. Was ist etwa mit kontroversen Weltansichten und umstrittenen Autorinnen und Autoren? Tendenziell sei die Linie, solche Medien durchaus anzubieten – außer sie widersprechen rechtlichen Grundlagen, sagt Schneider. "Ansonsten entspricht es der Meinungsfreiheit, dass Leute sich ihre Meinung bilden können und dass sie Bücher und andere Medien dazu bei uns in einer öffentlichen Bibliothek finden." Manchmal würden Büchern auch Hinweise beigefügt, Schneider nennt als Beispiel das Kinderbuch Jim Knopf.

Victoria bei den Kinderbüchern vermutet, dass ihr Sohn dieses Mal ein Buch mit Rittergeschichten auswählen wird. Auch das insgesamt an allen Standorten im Jahr 2022 am öftesten ausgeliehene Buch, Gregs Tagebuch 13: Eiskalt erwischt!, ist hier im College 4, dem "Kinderplaneten", zu finden. Die älteste aktive Leserin der Büchereien dagegen ist bereits fünfmal so alt wie die Hauptbücherei am Gürtel, nämlich 100 Jahre. (Christina Rebhahn-Roither, 12.5.2023)