Studienobjekt schöne Frau: Darstellung einer Schädel-OP.

Foto: Herbert List Estate, Max Scheler Estate

Der Gorilla fletscht seine Zähne, während die Frau in seinem Arm in stiller Schönheit erstarrt: Ihr Haar reicht beinahe bis zum Boden, die Brüste werden nur notdürftig von einem Laken bedeckt. Für Darstellungen wie diese standen die Menschen im Panoptikum im Wiener Prater Schlange – zumal die naturalistisch aus Wachs nachgebildeten Figuren in Lebensgröße ausgestellt waren. Nacktheit war bis lange ins 20. Jahrhundert hinein ein von Tabus überfrachtetes Thema. In dem ab den 1850ern betriebenen mobilen Wachsfigurenkabinett konnte man sich dagegen unter dem Mäntelchen der Aufklärung daran sattsehen.

Foto: HERBERT LIST - pro.magnumphotos.com

Neben historischen Begebenheiten (die Gorillaszene geht auf eine Geschichte in der südafrikanischen Transvaal-Republik zurück, dürfte aber von dem Film King Kong angeregt worden sein) erfreuten sich medizinische Darstellungen besonderer Beliebtheit. Da wird einer wie Venus daliegenden Frau die Schädeldecke aufgebohrt oder werden die Eingeweide eines Mädchens ausgestellt. Schauer und Schönheit, Erkenntnis und Erotik griffen in dem 1945 abgebrannten Panoptikum aufs Geschickteste ineinander.

Kurz zuvor lichtete der "Vierteljude" und bekennende Homosexuelle Herbert List die durch ihren Detailreichtum bestechenden Tableaus allerdings noch für die Zeitschrift Tele ab – eine Kulturzeitschrift, die als Geheimprojekt des Berliner Auswärtigen Amts in Schweden publiziert wurde. Für eine bibliophile Ausgabe arrangierte der in Hamburg geborene Fotograf die Aufnahmen zu einem Bildband, den die Leiterin des Wiener Photoinstituts Bonartes, Monika Faber, ausgegraben hat und der gemeinsam mit der nicht einmal in der Nationalbibliothek erhältlichen Tele die Grundlage für eine von Künstler Markus Schinwald konzipierte Ausstellung in der Wiener Seilerstätte ist.

Ein Beispiel aus der Ausstellung
Foto: herbert list/Magnum

Aufgeteilt auf zwei Räume kann hier ein hintergründig aufbereitetes und bisher völlig unbekanntes Stück Fotogeschichte entdeckt werden. Da wäre zum einen natürlich die Geschichte des Fotografen Herbert List, der es trotz vieler Hindernisse schaffte, weiterhin Fotoaufträge zu erhalten. Und natürlich jene der "deutschen Auslandsillustrierten" Tele. Hier wurden Kreativen Freiheiten zugestanden, die anderswo undenkbar waren. List nutzte diese aus: Im Oktober 1944 veröffentlichte er etwa eine Fotoserie über Picasso, im gleichen Heft erschien eine Reportage über die Befreiung von Paris.

Wie nebenbei – aber dafür in Großaufnahme – erzählt Glasblick und Wachshaut eine Kulturgeschichte des menschlichen Körpers. Wie er vermessen und ausgestellt wurde, wie Begehren unterdrückt und über die Hintertreppe aufgegriffen wurde. Die Menschen standen vor dem Panoptikum Schlange – wahrscheinlich aber nicht wegen der vielen Amor-Figuren, sondern wegen ihrer nackten Begleiterinnen. (Stephan Hilpold, 10.5.2023)