Als Gewerkschafterin Maureen Kearney trägt Huppert das Make-up wie eine Maske. Das passt zur Rolle, denn es geht darum, ob sie lügt oder tatsächlich Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde.

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Eine Begegnung in Paris anlässlich ihres neuen Films Die Gewerkschafterin. Isabelle Huppert, die im März ihren 70er feierte, wirkt locker und professionell. Sie ist in ihrer Komfortzone.

STANDARD: In Paul Verhoevens Elle spielen Sie eine Frau, die ihre eigene Vergewaltigung vertuscht. In Die Gewerkschafterin spielen Sie Maureen, eine Frau, die zur Polizei geht, aber dann beschuldigt wird, den Übergriff vorgetäuscht zu haben. Sehen Sie Parallelen?

Huppert: Anfangs nicht, aber während ich Maureen spielte, habe ich bemerkt, dass Ähnlichkeiten bestehen. Auch Elle möchte kein "normales Opfer" sein, sie weigert sich – wie Maureen anfangs – , zur Polizei zu gehen, und nimmt – bis zu einem sehr speziellen Punkt – alles selbst in die Hand. Beide sind Einzelgängerinnen.

STANDARD: Wie Elle wirkt Maureen erstaunlich abgeklärt.

Huppert: Ja, das war für mich das Interessante an der Rolle. Sie benimmt sich niemals wie ein "gutes Opfer". Das macht sie verdächtiger.

STANDARD: Was ist Ihrer Meinung nach ein "gutes Opfer"?

Huppert: Das ist so eine Frage. Ich denke, selbst wenn Maureen geweint oder Strümpfe und Unterwäsche getragen hätte – denn das wurde ihr ja vorgehalten –, hätte man ihr nicht geglaubt.

STANDARD: Ist es schwieriger, einen echten Menschen zu spielen, der sich den Film sogar ansehen könnte?

Huppert: Nein. Auch weil Maureen Kearney den Kontakt nicht suchte. Ihr Aussehen aber ist so kinematografisch: das blonde hochgesteckte Haar, die Zweiteiler, der Lippenstift und die Brille … Die Brille war wichtig, denn sie ist eine Barriere zum eigentlichen Blick einer Person. Das ist ja, worum sich der Film dreht: Lüge und Wahrheit.

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STANDARD: Sie spielen oft mysteriöse Frauenfiguren. Ist Maureen ihre bislang politischste Rolle?

Huppert: Ja, sie ist eine Gewerkschafterin und kämpft für die Angestellten des Atomkonzerns, für den sie arbeitet.

STANDARD: Gibt es etwas, für das Sie kämpfen würden?

Huppert: Ich fühle mich nicht als Kämpferin. Ich folge meinem Weg und überlasse den Kampf denjenigen, die dazu berechtigt sind.

STANDARD: Sind Sie politisch?

Huppert: Ich lese Zeitung, wie alle anderen.

STANDARD: Was sagen Sie zu MeToo? Sehen Sie Veränderungen?

Huppert: Der Film spielt Anfang der 2010er-Jahre, als die Aufmerksamkeit für Sexismus geringer war. Ohne dass sich Maureen dessen bewusst wäre, wird sie auf viele Arten mit Ungerechtigkeiten konfrontiert.

Maureens Chef (Gainsbourg-Ehemann Yvan Attal) hat es faustdick hinter den Ohren.
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STANDARD: Wie ist die Situation von Frauen im französischen Kino?

Huppert: Nicht übel. Zumindest für mich ist der Weg relativ einfach gewesen.

STANDARD: Einmal sagten Sie, dass eine Schauspielerin gleichzeitig naiv und misstrauisch sein müsse.

Huppert: Habe ich das gesagt? Ich würde zwar nicht mehr naiv sagen, aber man muss wie eine Art Schwamm sein: bereit, die Ansichten und Wünsche des Regisseurs oder der Regisseurin zu absorbieren. Andererseits ist man auch ein Mensch. Aber meiner Erfahrung nach ist es sehr selten, dass man mit Situationen konfrontiert wird, die nicht im Drehbuch stehen.

STANDARD: Sie wurden auch mal als der Boss des französischen Kinos bezeichnet. Gefällt Ihnen das?

Huppert: Nun ja, das ist eine leichte Übertreibung.

Isabelle Huppert mit Regisseur Jean-Paul Salomé auf der Premiere von "Die Gewerkschafterin" am Filmfestival von Venedig 2022.
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STANDARD: Nachdem Bryan Cranston mit Breaking Bad seinen Durchbruch hatte, bemerkte er, dass sich die Leute ihm gegenüber anders benahmen. Geht es Ihnen nicht auch so?

Huppert: Nein, aber ich bin nicht so gut wie Bryan Cranston. Ich sah ihn einmal auf der Bühne, und er ist so fantastisch. Ein toller Schauspieler.

STANDARD: Gibt es eine Rolle, die Sie noch spielen möchten?

Huppert: Nein, eigentlich nicht.

STANDARD: Steht denn ein neues Projekt mit Michael Haneke an?

Huppert: Leider nicht. Er hat sich zurückgezogen. Aber ich würde gern wieder mit ihm arbeiten.

STANDARD: Maureen spielt abends Poker, um ihren Kopf freizukriegen. Haben Sie etwas, das Sie entspannt?

Huppert: Fernschauen, und zwar den größten Müll. Das spült mein Hirn durch. (Valerie Dirk, 10.5.2023)