Unterdrückung, Armut, Millionen dahingeraffte Menschenleben: Wie könne Andreas Babler nur so geschichtsvergessen sein? Die Junge ÖVP war außer sich, entsetzt, was Traiskirchens Bürgermeister da unlängst im öffentlich-rechtlichen Hauptabendprogramm von sich gab. Marxismus, sagte Babler, das sei eine gute Brille, um auf die Welt zu schauen.

Marxismus in unter drei Minuten erklärt
DER STANDARD

Der türkise Nachwuchs empfahl dem Kandidaten im laufenden Führungskampf der SPÖ, einen Optiker aufzusuchen, und verquickte marxistisches Denken mit schaurigen Aussichten: dem diktatorischen Regime in Nordkorea, den unzähligen Toten des Kommunismus, dem Treibstoffmangel in Kuba. Die Junge ÖVP stellte Babler als gefährlichen Revolutionär dar, der den Pfad der Demokratie verlassen habe. Doch so einfach ist die Sache nicht.

Heute steckt Marx noch immer im roten Parteiprogramm – nicht nur in jenem von Andreas Babler.
Foto: Illustration: Fatih Aydogdu; Bidler: Heribert Corn, CC Wikimedia

Marxismus: Darin sehen die einen linksextreme Ideale und historisch belastete Verbindungen zu den Gräueltaten des sowjetisch-kommunistischen Diktators Josef Stalin. Für die anderen sind die Theorien des deutschen Philosophen Karl Marx seit vielen Jahrzehnten in Wissenschaft und Politik eine Richtschnur, wenn es darum geht, auf soziale Ungleichheiten in einer Gesellschaft und die Verwerfungen des Kapitalismus aufmerksam zu machen. Aber was steckt konkret dahinter? Und wie viel Marx steckt in Andreas Babler?

Marxismus: Was ist das überhaupt?

Wenn es darum geht, Marxismus zu erklären, scheiden sich die Geister: Es gibt viele Strömungen und Interpretationen. In seiner Urform geht die Theorie aber auf Karl Marx zurück, der im 19. Jahrhundert lebte – zur Zeit der aufkommenden Industrialisierung in Europa. Die damalige Entstehung von vielen Fabriken brachte für etliche Arbeiterinnen und Arbeiter niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen.

Und genau das beschäftigte Marx in seinen Werken: Die Menschen, die keinen Besitz hatten und auf ihre Arbeit angewiesen waren, um Geld zu verdienen, wurden von jenen ausgebeutet, die Fabriken besaßen und bloß durch ihren Besitz hohe Gewinne erzielten.

Marx kritisierte, dass nur die Schaffung von großem Reichtum eine Rolle spiele und nicht die Warenproduktion oder die arbeitenden Menschen selbst. "Hauptsache Profit, egal unter welchen Bedingungen die Waren produziert wurden, egal wie lange sie halten", sagt der deutsche Politikwissenschafter Ulrich Brand, der unter anderem an der Uni Wien unterrichtet. Es sei Marx um ein kritisches Verständnis des Kapitalismus gegangen. Denn dieser schaffe enormen materiellen Reichtum, "aber um den Preis der Ausbeutung von Menschen und von Natur", sagt Brand.

Das Ziel des Marxismus: der Kommunismus als eine "klassenlose Gesellschaft" – eine Realität, in der die Ausbeutung von Mensch und Natur nicht mehr existiert. Der Staat wird im Kommunismus nach Marx'scher Lehre von der "Diktatur des Proletariats" regiert, also der Mehrheit jener Menschen, die von ihrem Lohn abhängig sind.

Marx’ Ideen werden auch heute noch in der Wirtschaft und Politik aufgegriffen, um etwa auf die zerstörerische Auswirkung des Kapitalismus auf die Natur oder die Ausbeutung von Entwicklungsländern durch den bessergestellten "Westen" aufmerksam zu machen.

Austromarxismus: Eine Tradition der SPÖ

Als politische Vision fand der Marxismus vor allem in sozialdemokratischen Parteien viele Anhänger im 20. Jahrhundert. Aktuell nicht mehr so wichtig wie damals, spielt der Austromarxismus, eine Form der Theorie aus Österreich, noch immer eine Rolle in der österreichischen Sozialdemokratie.

Marxistisches Denken lässt sich unter anderem im aktuellen Parteiprogramm der SPÖ finden, sagt Armin Puller, der selbst als Bezirksrat bei den Roten aktiv ist und Politikwissenschaft an der Uni Wien lehrt. Im Programm heißt es etwa, dass das Ziel sei, "die Klassengegensätze zu überwinden" und es "die grundlegende Infragestellung der bestehenden Reichtums- und Machtstrukturen erfordert".

Die SPÖ bedient sich damit wesentlichen Aussagen aus dem Marxismus. Das habe sich im Laufe der Jahrzehnte kaum geändert, und der Marxismus habe in der Partei eine lange Tradition, sagt Puller.

Der Austromarxismus habe laut Brand stets Wert auf parlamentarische Mehrheiten gelegt und autoritäre Absichten abgelehnt. Es solle die gesellschaftliche Veränderung durch die Demokratie vollzogen werden, sei das Argument der Strömung gewesen. Brand hält es aus diesen Gründen auch plausibel, dass sich Babler mit dem Austromarxismus anfreunden könne.

Andreas Babler: Marxist ohne Bekenntnis

Laut aussprechen will Babler das nicht. Schon Marx sagte, er sei kein Marxist. Wohl um so einer negativen Vereinnahmung seiner Theorien zu entgehen – wie es später historisch auch passieren sollte. Babler macht es ihm gleich. "Ich bin Sozialdemokrat", sagt er auf Nachfrage. Er geniere sich aber nicht dafür, sich mit der Ideengeschichte der Arbeiterbewegung zu beschäftigen.

Bei Babler steckt aber doch mehr dahinter. Der Traiskirchner Bürgermeister wurde in der Sozialistischen Jugend sozialisiert, dem roten Parteinachwuchs, der seine Überlegungen auf dem Marxismus aufbaut. Babler war dort sogar ein sogenannter Stamokapler. Also ein Anhänger einer marxistisch-leninistischen Denkweise, die ganz grob besagt, dass eine Verschmelzung von Staat und Wirtschaft den Kapitalismus überwinden könnte.

Dazu sagt Babler heute nichts mehr. Von damals sei ihm aber geblieben, "dass den arbeitenden Menschen nichts geschenkt wird" und dass es Aufgabe der SPÖ sei, über eine neue Wirtschaft nachzudenken, "die nicht auf Profitmaximierung und Ausbeutung und nicht auf Umweltzerstörung und Ressourcenverschwendung setzt" – und es gehe darum, was der Staat gegen die wachsende Ungleichheit tun könne.

In dieses Denken passt vieles aus dem Programm, das Babler im Rennen um den SPÖ-Vorsitz vorgelegt hat. Sei es die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, die Besteuerung von Übergewinnen, aber auch der Rechtsanspruch auf eine hochwertige Pflege im Alter.

Marxismus verstehe Babler jedenfalls "nicht als geschlossenes Denksystem und schon gar nicht als Staatsideologie", sondern als Denkanstoß, um wirtschaftliche und soziale Probleme zu analysieren.

Die Vereinnahmung: Was mit Lenin begann

Während für die einen der Marxismus die Antwort auf den Kapitalismus ist, ist er für andere die Ursache von Tod und Leid. Der Marxismus wurde von etlichen Ländern, wie etwa China und Nordkorea, als Staatsideologie vereinnahmt und dient noch heute als Legitimation für Verbrechen an der Menschheit. Allen voran die Sowjetunion unter Wladimir Iljitsch Lenin wollte im 20. Jahrhundert einen Staat nach Marx'scher Idee schaffen. Unternehmen in Russland wurden verstaatlicht, Grundbesitzer enteignet, um den Kommunismus rasch umzusetzen. Das diktatorische Regime kostete bis zur Auflösung 1991 Millionen Menschen das Leben.

Das sei aber mit Sicherheit nicht die Intention von Marx gewesen, wendet Politikwissenschafter Brand ein. Mit der "Diktatur des Proletariats" habe Marx gewollt, dass eine "Herrschaft der Mehrheit aus Lohnabhängigen" regiere, und nicht eine tatsächliche Diktatur durch eine einzelne Partei. Nach Brands Einschätzung hätte sich Marx wohl dagegen gewehrt, dass er in der Sowjetunion, Osteuropa und heute in China zum dogmatischen Staatsideologen für etwas wurde, das sich als kommunistisch bezeichnet – aber am Ende eigentlich nur eine Staatsklasse legitimiere. (Jan Michael Marchart, Max Stepan, 10.5.2023)