Das ist nur eine Übung! Carla Nowak (Leonie Benesch) behält ihre Fassung auch in schwierigen Situationen.

Foto: Alamode

Aber dirigieren, wie zu Beginn, kann Frau Nowak ihre Klasse nicht mehr lang.

Foto: Alamode

Fast wäre İlker Çataks Film Das Lehrerzimmer von der deutschen Filmförderung zum Fernsehfilm degradiert worden. Womöglich, weil der 1984 geborene deutsch-türkische Regisseur bislang vorwiegend im Fernsehen beheimatet war. Außerdem dachte man wohl, dass das Thema kein Kinopublikum anziehen würde. Eigentlich paradox, denn Schuldramen haben in der Kinogeschichte ihren festen Platz.

Das Lehrpersonal des Kinos

Man denke etwa an den deutschen Kinohit Fack ju Göhte oder – ganz anders – an Die Klasse von Laurent Cantet, den Cannes-Gewinnerfilm von 2008. Dieses Jahr hat Jessica Hausners Club Zero im Hauptwettbewerb des kommende Woche startenden französischen Festivals die Chance, mit einem Schulthema die Goldene Palme zu erringen. Darin spielt Mia Wasikowska eine Lehrerin, die ihren Schülerinnen strenge Diätpläne oktroyiert (mehr dazu in Kürze). Weniger toxische, ja geradezu idealistisch-kumpelhafte Lehrpersonen brachte Hollywood um 1990 mit Robin Williams in Peter Weirs Der Club der toten Dichter (1989) oder Michelle Pfeiffer in Dangerous Minds (1995) auf die große Leinwand.

Cool – cooler – Pfeiffer: Michelle Pfeiffer in "Dangerous Minds"
Foto: imago

Neben den Hollywood-Lehrerinnen Pfeiffer und Wasikowska muss sich die deutsche Schauspielerin Leonie Benesch, die in Das Lehrerzimmer die Hauptrolle spielt, nicht verstecken. Benesch war in den populären Serien Babylon Berlin und The Crown zu sehen, auf der Berlinale wurde sie heuer European Shooting Star, und für den Deutschen Filmpreis ist sie – wie der Film – ebenfalls nominiert. Ihr Kinodebüt hatte sie mit siebzehn in Michael Hanekes Das weiße Band. Auch das war ein Schulfilm, der in Cannes, nur ein Jahr nach Die Klasse, die Goldene Palme gewann.

Hanekes Cannes-Gewinner 2009: " Das Weiße Band" mit Leonie Benesch als Eva.
X Verleih AG

Brennglas auf Gesellschaftsfragen

Klassenräume dienen im Kino als Guckkästen für gesellschaftliche Entwicklungen. Die Wurzel des Nationalsozialismus bei Haneke, der Verlust der Poesie im Bildungswesen bei Weir oder Diversitäts- und Klassenfragen in Dangerous Minds. Möchte man ein allgemeines Thema aus Das Lehrerzimmer herausschälen, dann wäre es wohl das der Wahrheitssuche.

"Veritas omnia vincula vincit", die Wahrheit überwindet alle Grenzen, steht denn auch an der Wand der Schulzeitungsredaktion. Dass es in der Wahrheitsfindung und -verbreitung bestimmte Methoden und stilistische Feinheiten zu beachten gibt, das müssen nicht nur die Schüler und Schülerinnen noch lernen. Doch zu dem Zeitpunkt, zu dem die Schulzeitung die vermeintlich ganze Wahrheit über die an der Schule begangenen Diebstähle skandalheischend ans Licht zerrt, ist es in İlker Çataks Film eigentlich schon zu spät.

Die faire Lehrerin

Carla Nowak (Benesch) ist neu an der Hamburger Mittelklasseschule mit Null-Toleranz-Politik. Sie unterrichtet Sport und Mathe, Fächer, die ihrem rationalen Wesen gleichen. Fairness und säuberlich hergeleitete Beweisführungen prägen ihren Unterricht.

Alamode Film

Was in der Klasse noch gut klappt, eckt im Lehrerzimmer bereits an, denn die Klarheit, mit der Carla Grenzen setzt, macht ihre Kollegen aufmerksam auf den eigenen, schludrigen Umgang damit. Und dann ist da noch ein Problem: In der Schule wird gestohlen. Da die unguten Verhöre mit einzelnen Schülern nicht zum gewünschten Ausgang führen, lässt Carla, die bemerkt, dass sich jemand im Lehrerzimmer an der Kaffeekasse bedient, ihr Portemonnaie dort zurück und filmt es mit dem Laptop. Und prompt ist der Beweis da.

Eins führt zum anderen

Das Lehrerzimmer ist einer jener Filme, in denen jedes Ergebnis ein größeres Problem mit sich bringt. Das Beweisvideo ist nämlich nicht eindeutig, die beschuldigte Person streitet die Diebstähle emotional ab, und zu allem Überfluss sitzt deren Sohn in Carlas Klasse, über die sie langsam die Kontrolle verliert.

Mit engen, nervösen Bildern – die Kamera führte Judith Kaufmann (Corsage) – und einem spannungsgeladenen Streichersoundtrack zieht Çatak sein Publikum hinein in das komplexe Kräftemessen zwischen Lehrern, Schülern und deren Eltern.
Ein spannender, genau beobachtender Thriller, der Fragen aufwirft, die keine plakativen Antworten zulassen. (Valerie Dirk, 12.5.2023)