Musik zum Wachbleiben und unter jeder Gürtellinie: Amnesia Scanner

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Das Berliner Duo Brutalismus 3000 als ein Beispiel unter vielen ist in diesem Bereich absolut führend.

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Während der stillsten Zeit der letzten Jahre hatte es die Clubmusik bekanntlich schwer. Wenn es darum ging, ordentlich auf den Putz zu hauen, die Kacke zum Dampfen und das Haus zum Stinken zu bringen, war nicht gerade Dienst gegen alle Vorschriften angesagt. Auf Privatpartys in Garagen oder in illegal dann trotzdem irgendwie durch die Hintertür geöffneten Clubs war es schließlich bei aller Hellhörigkeit der bösen Nachbarn nicht ganz leicht, den Lautstärkeregler bis zum Anschlag nach ganz rechts zu drehen und zu schauen, ob die Trommelfelle und die Mägen halten. Verschwende deine Jugend, das alte Motto der deutschen Band Deutsch-Amerikanische Freundschaft, lief auf Sparflamme.

Die Zeit ist 2023 also längst reif für neue Ausschweifungen, pure Unvernunft und eine Jugend, bei der man derzeit zügig drei Jahre im Schnelltempo nachholen muss. Deshalb macht es umso mehr Spaß, wenn man im Nachtleben musikalisch mit der Abrissbirne in die Soundsysteme der Clubs kracht und dabei wirklich jedes Niveau vermissen lässt: 1.) Wenn es dir zu laut ist, bist du zu alt. 2.) Wenn es dir zu blöd ist, bist du noch älter! Du liegst im Ausgedinge. Lebst du noch, oder stirbst du schon? Diese Leute wollen uns nur provozieren.

Das Herz rast, die Boxen rauchen

Der gefürchtete Happy-Hardcore- und Gabber-Techno der 1990er-Jahre liegt eigentlich schon länger zurück. Stumpfe Beats, Lalelu mit Quietschente und rudimentäre musikalische Techniken dank Schnellsieder-Computerprogrammen für die Vorschule treffen heute bizarrerweise auf aktuelle Festveranstaltungen der nachrückenden Trendsportjugend. Wenn man die Wahl zwischen guter Musik und schlechter Musik hat, die die Alten schon geärgert hat, als sie selbst noch jung waren, was würde man als junger Mensch wählen? Richtig.

Dazu setzt es zu Marschrhythmus im Herzkasperlbereich gequältes gesangliches Gekeife in hoher Frequenzlage. Es klingt heute auch dank Autotune oder Geschwindigkeits-Pitchern wieder so, als hätte man eine singende Schmusepuppe aus dem Spielzeuggeschäft auffrisiert, unter Strom gesetzt und das Ganze mit grobianischem Volumen aus den rauchenden Boxen gejagt. Man erinnere sich an Marusha und "Somewhere over the Rainbow", die Loveparade in Zeiten, in denen neben der Siegessäule in Berlin im Park billige Pornos gedreht und neonfarbene Gummiwürste aus den frühen 1990er-Jahren geschwungen wurden.

Brutalismus 3000

Das Berliner Duo Brutalismus 3000 als ein Beispiel unter vielen ist in diesem Bereich absolut führend. Es sagt Ja zu einer Musik unter jeder Gürtellinie. Wenn diese Kunst die Drogen und überhaupt alles, was mehr schlecht als recht ist, heftig abfeiert und zu einer einflussreichen Influencersache werden sollte, dann gute Nacht im Kinderzimmer.

Theo Zeitner und Victoria Vassiliki Daldas wurden als Brutalismus 3000 schon mit "3isbär" und "Das Model", also steinalten, vom Tempo her in den hyperventilierenden Wahnsinn geprügelten Grauzone- und Kraftwerk-Hits für Oma und Opa verhaltensauffällig. Hier kommt zusammen, was zusammengehört.

Die Liebe kommt nicht aus Berlin

Natürlich ist das alles nicht wahrhaftig, sondern genüsslich inszenierte Provokation. Auf den digitalen Veröffentlichungen "Eros Massacre" und "Liebe in Zeiten der Kola" bekreischte und dögelte Brutalismus 3000 etwa den "Bitchboss". Mit dem Stück "Ich habe meine Tage im Berghain" lieferten die zwei süßen Fratzen auch eine späte Hymne der weltbekannten Berliner Absturzhütte Berghain ab.

Das Albumdebüt "Ultrakunst" wirkt dagegen nun fast ein wenig milde und abgeklärt. Gesanglich hält sich Brutalismus 3000 an Berliner Landessprachen wie Slowakisch, Deutsch und Englisch. Mit "Die Liebe kommt nicht aus Berlin" hat man aber die beste und das Kurzzeitgedächtnis nachhaltig zerstörende Clubhymne der Stadt seit Jahrzehnten veröffentlicht. Auch wenn es dem Publikum dabei die Zehennägel aufrollen mag: Das ist nicht Kunst, das kann ich auch: genau!

Brutalismus 3000

"Alles, was ich seh, ist Schmerz / Durch die Nase ins Herz / Willst du das wirklich alles zieh'n? / Die Liebe kommt nicht aus Berlin!" Und weiter, einen Schritt nach dem anderen, irgendwann werden wir wieder nach Hause finden, aber diese Woche noch nicht: "Eins, zwei, drei, vier, ah!"

In anderen Liedern wie "Is U Chemical" oder "Suka Suka" wird ebenfalls über gängige andere Sachen zum Wachbleiben verhandelt. Wer als Erster müde wird, hat verloren. Brutalismus 3000 werden schnell verglühen. Und das ist gut so. Diese Musik kennt nur eine geringe Halbwertszeit. Sie selbst nennen es "nu gabber post techno punk from berlin with love".

Diverse andere Acts wie etwa das finnische und ebenfalls in Berlin ansässige Duo Amnesia Scanner oder zahlreiche asiatische ADHS-Künstlerinnen im Zeichen der Pachinko-Spielautomaten machen es mit ihrer Kunst des Information-Overload gescheiter und komplizierter. Sie gehen auf die Kunstfestivals. Brutalismus 3000 stolpern lieber gegen Sonntagnachmittag aus dem Club in die gleißende Sonne. He, die Bude hat einen Ausgang. Wollen wir das hören? Unser Herz macht bumm. (Christian Schachinger, 13.5.2023)